«Wichtig ist, den Sachverhalt genau abzuklären.»
Immer wieder gelangen Sozialhilfebeziehende an die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS), weil ihnen vorgeworfen wird, unrechtmässig Sozialhilfe bezogen zu haben. Viele dieser Fälle entpuppen sich als unrechtmässiger Sozialhilfebezug, der keine strafrechtlichen Folgen hat, oder als ungerechtfertigte Bereicherung, sagt Nicole Hauptlin von der UFS. Sie empfiehlt, den Sachverhalt genau abzuklären, bevor eine Anzeige eingereicht wird.
Frau Hauptlin, wie sehr und in welcher Form beschäftigen die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) Vorwürfe von unrechtmässigem Bezug von Sozialhilfe?
NICOLE HAUPTLIN: Unrechtmässiger Bezug ist immer wieder ein Thema unserer Klientinnen und Klienten, gerade wenn es um die Frage der Rückerstattung geht. In rund ein bis zwei Prozent aller Fälle der UFS wird den Sozialhilfebeziehenden ein strafrechtlich relevanter unrechtmässiger Sozialhilfebezug vorgeworfen. Sehr viele dieser Fälle entpuppen sich aber als unrechtmässiger Sozialhilfebezug, der keine strafrechtlichen Folgen hat, oder als ungerechtfertigte Bereicherung. Wenn noch keine Strafanzeige erfolgt ist, macht die UFS eine Einschätzung, ob der unrechtmässige Bezug strafrechtlich relevant sein könnte, und interveniert gegebenenfalls bei der Behörde. Liegt die Anzeige bereits vor, berät sie die betroffene Person über das weitere Vorgehen und vermittelt ihr, falls notwendig, eine Strafverteidigerin oder einen Strafverteidiger, der ihnen bei den weiteren Schritten zur Seite steht. Die betroffene Person wird darüber aufgeklärt, wie sie in Zukunft unrechtmässigen Bezug vermeiden kann.
Wann sind Sozialarbeitende verpflichtet, missbräuchlichen Bezug von Sozialhilfe zur Anzeige zu bringen?
In einem ersten Schritt müssen Sozialarbeitende abklären, ob ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt. Für die Prüfschritte gibt es diverse Schemata. Sehr vereinfacht gesagt, muss die Person die Behörde getäuscht haben, die Behörde muss daraufhin ihre Leistungspflicht falsch eingeschätzt und deshalb zu viel Geld ausbezahlt haben. Wenn dies der Fall ist, dann muss noch in Erfahrung gebracht werden, ob die Person diese Täuschung wissentlich und willentlich begangen hat, um mehr Leistungen zu erhalten. Nur wenn auch dies zutrifft, muss eine Anzeige geprüft werden. Im Übrigen ist die Anzeigepflicht kantonal geregelt. Im Kanton Zürich muss beispielsweise das Gesetz über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess beachtet werden. Dieses besagt: «Behörden und Angestellte des Kantons und der Gemeinden zeigen strafbare Handlungen, die sie bei Ausübung ihrer Amtstätigkeit wahrnehmen, an. Ausgenommen von dieser Pflicht, aber zur Anzeige berechtigt sind Personen, deren berufliche Aufgabe ein persönliches Vertrauensverhältnis zu Beteiligten oder deren Angehörigen voraussetzt.»
Das heisst, dass Sozialarbeitende nicht zwingend Anzeige erstatten müssen?
Doch, wenn ein solch strafrechtlich relevanter unrechtmässiger Bezug vorliegt, schon. Sozialarbeitende auf kommunalen Sozialdiensten haben immer einen behördlichen Auftrag, üben also, sobald sie im Dienst sind, immer Amtstätigkeit aus. Beobachtungen, die sie ausserhalb der Arbeitszeit machen, fallen nicht unter die Amtstätigkeit. Sozialarbeitende, die von privaten Institutionen angestellt sind, fallen auch nicht unter die Anzeigepflicht. Prinzipiell müssen Sozialarbeitende auf Ämtern im Kanton Zürich alle Fälle melden, auch solche mit geringfügigen Deliktsummen. Ob diese dann angezeigt werden, entscheiden dann die Verantwortlichen der Strafverfolgung. Gerade in Bagatellfällen kann auf eine Anzeige verzichtet werden.
Wann liegt ein strafrechtlich nicht relevanter unrechtmässiger Bezug vor?
Sozialarbeitende müssen gut abklären, ob ein unrechtmässiger Bezug strafrechtlich relevant sein könnte oder nicht oder ob gar nur eine ungerechtfertigte Bereicherung vorliegt. Es kann sogar sein, dass eine verschwiegene Einnahme gar keine Rolle spielt. Nicht relevant sind zum Beispiel Geschenke in kleinerem Umfang. Spielraum gibt es auch bei grösseren zweckgerichteten Zuwendungen Dritter. Hier könnten Sozialarbeitende verlangen, dass der Klient oder die Klientin subito eine Bestätigung über den Zweck der Zuwendung durch die Drittperson vorlegt. Insbesondere wenn es sich um einen Zweck handelt, der nicht durch den Grundbedarf gedeckt ist, und deshalb Situationsbedingte Leistungen hätten gesprochen werden können, kann eine Anrechnung und somit ein ungerechtfertigter Bezug verneint werden. Beispielsweise wenn ein Kurs zur Weiterbildung damit finanziert wurde. Eine ungerechtfertigte Bereicherung liegt immer dann vor, wenn die Behörde aus Versehen eine Leistung ohne Rechtsgrund ausrichtet, zum Beispiel eine Doppelzahlung oder das vergessene Anrechnen von Unterhaltszahlungen. Man spricht hier auch von einem Verwaltungsfehler. Bei der Frage, ob im jeweiligen Fall ein Verwaltungsfehler vorlag oder ob die Falschberechnung oder Falschzahlung durch die mangelnde Mitwirkungspflicht des Klienten oder der Klientin verursacht wurde, ist die Argumentation der Sozialarbeitenden von wesentlicher Bedeutung. Ein Verwaltungsfehler kann wie bis anhin durch Verrechnung in den Folgemonaten ausgebügelt werden. Eine Aktennotiz, in der Sozialarbeitende ihren Fehler notieren, sobald sie ihn bemerken, ist für die Beweislage sehr sinnvoll.
Was heisst das nun konkret für das Vorgehen in der Praxis?
Wie immer lautet die juristische Antwort: Es kommt darauf an. Es ist notwendig, dass die Vorgehensweise bei einem unrechtmässigen Bezug und bei Verdacht auf eine strafrechtliche Relevanz im Team oder im Sozialdienst besprochen und festgehalten wird. Damit kann Willkür vermieden werden. Ein Prüfschema, das Sozialarbeitenden hilft, die möglichen strafbaren Fälle zu eruieren, ist sicher auch wertvoll. Doch ist es auch notwendig, dass sich jede einzelne Fachperson ihr Rollen- und Professionsverständnis vor Augen führt. Zu oft wird zu schnell zur Keule der Anzeige gegriffen. Sozialarbeitende müssen immer auch den Klientinnen und Klienten zuhören und dabei Ermessen ausüben und abwägen.
Was geschieht, wenn die Sozialhilfebeziehende aus Unverständnis falsche Angaben macht?
Besonders psychisch stark beeinträchtige Personen und Personen, die sich gerade knapp mit den Sozialarbeitenden verständigen können, haben oft nicht verstanden, was die Sozialhilfe als Einnahmen zählt und was nicht. Ihnen fehlt es am geforderten Vorsatz für eine Verurteilung wegen unrechtmässigen Sozialhilfebezugs. Und sie müssen eingestehen, dass auf Ämtern Fehler passieren, dass sie keine Maschinen sind, die immer alles korrekt machen. Ob Sozialarbeitende unrechtmässigen Bezug oder Sozialhilfemissbrauch zur Anzeige bringen, hängt davon ab, ob und wie stark sie sich für die Berufsethik einsetzen. Achten die Sozialarbeitenden ihren Berufskodex und erinnern sich daran, dass die Soziale Arbeit dafür kämpfen muss, um als Profession anerkannt zu werden, so kann es eigentlich auf die Frage der Anzeigepflicht nur eine Antwort geben: Die möglichen Folgen für den Klienten oder die Klientin, den Sozialarbeitenden und die Institution müssen insgesamt verantwortbar sein.
Was bedeutet die Verpflichtung, missbräuchlichen Bezug zur Anzeige zu bringen, für die Arbeit der Sozialarbeitenden in der Praxis?
Zöge wirklich jeder kleinste Verdacht auf Sozialmissbrauch eine Anzeige und ein Verfahren nach sich, könnte nicht mehr sozialarbeiterisch gearbeitet werden. Es könnte kein Vertrauensverhältnis mehr zwischen Sozialarbeitenden und ihren Klientinnen und Klienten entstehen. Diese müssten in ständiger Angst vor den Sozialarbeitenden leben und müssten zum Selbstschutz auf jede Mitteilung, die über das Einreichen der verlangten Unterlagen hinausgeht, verzichten. Das hätte zur Folge, dass Soziale Arbeit auf Sozialdiensten nur noch Administration und Verwaltung wäre. Dies wäre jedoch mit den Ansprüchen, welche die Soziale Arbeit an sich selbst stellt, aber auch denjenigen Ansprüchen, welche die Gesellschaft an die Soziale Arbeit hat – Teilhabe fördern, Hilfe zur Selbsthilfe geben usw. – nicht mehr vereinbar.
Welche Empfehlung würden Sie den zuständigen Sozialarbeitenden geben?
Ich kann sagen, dass ich sehr viele Entscheide sehe, in denen die Staatsanwaltschaft keine strafbare Handlung sieht und die Strafuntersuchung einstellt. Viele der Anzeigen sind offensichtlich voreilig gestellt worden. Das tut mir vor allem für die Klienten leid: Sie werden verdächtigt, angeschuldigt, verhört, fürchten eine Landesverweisung und können am Schluss zwar aufatmen, weil sie nichts Falsches getan haben, sie werden aber für die anstrengende Zeit des Verfahrens nicht entschädigt. Mir tut es auch leid, dass ihr Glaube an den Rechtsstaat und die Gerechtigkeit durch solche unbegründeten Anzeigen leidet. Mein Rat ist also: Klären Sie den Sachverhalt genau ab, schreiben Sie ausführliche Aktennotizen, und setzen Sie sich für das Wohl Ihrer Klienten dort ein, wo Sie einen Spielraum haben.
Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht
Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS ist ein gemeinnütziger Verein in Zürich. Das Leistungsangebot der UFS besteht im Wesentlichen aus Beratung, Begleitung und Vertretung sowie Schulungen im Bereich Sozialhilferecht. Für Armutsbetroffene sind die Dienstleistungen kostenlos.
Umsetzung der Ausschaffungsinitiative – Merkblatt der skos
Die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative fordert seit Oktober 2016 in besonderem Masse auch die Behörden und Organisationen im Bereich der Sozialhilfe, da namentlich Missbrauchs- und Betrugsfälle im Bereich der Sozialhilfe zu jenen Delikten gehören, die neu zu einer Ausschaffung führen können. Von den neuen Regelungen sind aber nicht nur die ausländischen Klientinnen und Klienten betroffen, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialhilfe: Mit der Umsetzung der Initiative kommen neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf sie zu. Neben dem Betrug kann nun auch der unrechtmässige Sozialhilfebezug zur Ausschaffung führen, der als neue Straftat ins Bundesrecht aufgenommen wurde (Art. 148a StGB). Das neue Delikt gilt für alle Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhilfe – auch für Schweizerinnen und Schweizer. Während für letztere Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr oder Geldstrafen vorgesehen sind, kann eine Verurteilung für Ausländerinnen und Ausländer eine Ausschaffung zur Folge haben.
Die SKOS hat im Rahmen der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative ein Merkblatt publiziert, das Fragen zur Umsetzung der neuen Pflicht zur Umsetzung beantwortet: Recht_und_Beratung/Merkblaetter/2018_MB_Ausschaffungsinitiative-Umsetzung_V7.pdf