Weiterbildungsoffensive in der Sozialhilfe – die Bilanz
Bildung ist eine zentrale Voraussetzung für eine nachhaltige Integration in die Arbeitswelt. Es lohnt sich deshalb sowohl aus sozialen als auch aus wirtschaftlichen Gründen, in die Weiterbildung von Sozialhilfebeziehenden zu investieren. Unter dem Titel «Arbeit dank Bildung» haben die SKOS und der Schweizerische Verband für Weiterbildung (SVEB) das Pilotprojekt «Weiterbildungsoffensive in der Sozialhilfe» (WBO) lanciert. Es wurde von September 2019 bis Dezember 2021 umgesetzt. Eine Bilanz.
Ziel der Offensive war einerseits, die teilnehmenden Sozialdienste zu unterstützen, interne Prozesse und Strukturen zu entwickeln, die die Förderung der Bildung von Sozialhilfebeziehenden begünstigen. Sozialhilfebeziehende andererseits sollten im Rahmen dieser entstehenden Strukturen die Möglichkeit erhalten, an Weiterbildung teilzunehmen, vom Erwerb von Grundkompetenzen über berufliche Qualifizierung bis hin zum Berufsabschluss für Erwachsene.
Der WBO-Prozess
Das Vorgehen bzw. der Weg zur Qualifizierung im Verständnis der WBO gliederte sich in vier Etappen:
- Fundierte Abklärung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten einschliesslich der Grund-, Schlüssel- und Alltagskompetenzen (Assessment)
- Bestimmung ihres Bildungsziels durch Betroffene
- Erstellung des individuellen Bildungsplans
- Suche des geeigneten Bildungsangebots
Die betroffene Person wird vom Sozialdienst – oder einer anderen Stelle – auf dem gesamten Bildungsweg begleitet, gecoacht und gefordert. Die Verantwortung der Sozialhilfe dauert an, bis das Bildungsziel erreicht ist, ein Einstieg in die Arbeitswelt erfolgt ist und noch eine angemessene Frist darüber hinaus.
Die Ziele der Sozialdienste
Ein erstes Ergebnis des Projekts war bereits die Formulierung der jeweiligen Ziele, die die Sozialdienste mit Unterstützung von Fachleuten verfassten. Die Ziele der Sozialdienste waren vergleichbar, wiesen jedoch sozialdienstspezifische Schwerpunkte auf:
- Mitarbeitende für das Thema Grundkompetenzen/Weiterbildung sensibilisieren
- Potenzialabklärung in den Prozess implementieren
- Schnittstellen identifizieren und klären (intern: Fachstelle Arbeit, extern: Angebote der Arbeitsintegration)
- Erarbeiten und Testen von Instrumentarien zum Erkennen von Förderbedarf in der Bildung und insbesondere bezüglich Grundkompetenzen
- Individuelle Bildungspläne für Sozialhilfebeziehende erstellen
- Gesamtkonzept für die Förderung der Grundkompetenzen erstellen
- Wissensvermittlung zum Thema Bildung und Arbeitsmarkt implementieren
- Ist-Analyse/Übersicht der Bildungsangebote erstellen, Vernetzung mit Bildungsanbietern in der Region
Neue Instrumente: Kompetenzen-Checkliste
In allen Sozialdiensten ergab sich zu Projektbeginn ein klarer Fokus auf das Thema «Grundkompetenzen erkennen und ansprechen» sowie das Erfassen und Dokumentieren aller relevanten Informationen zum Thema Grundkompetenzen und Bildung. Zunächst war es im Kontext der WBO daher zentral, den Zusammenhang zwischen Grund- und Alltagskompetenzen zu definieren.
In der Folge ist die Checkliste «Kenne ich die Kompetenzen meiner Klient:in?» entstanden. Alle teilnehmenden Sozialdienste nutzten die Checkliste, teilweise in angepasster Form, für das Erfassen grundlegender Informationen über die Bildungsbiografie und den Bildungsstand der Sozialhilfebeziehenden.
Für eine detaillierte Abklärung des Förderbedarfs in den Grundkompetenzen wurde im Herbst 2020 ein Standortbestimmungsinstrument vorgestellt. Es macht mithilfe konkreter Aufgaben aus dem Alltag die Grundkompetenzen beim Sprechen, Lesen, Schreiben, bei der Alltagsmathematik und bei den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sichtbar. Das Instrument wurde von mehreren Sozialdiensten angepasst und getestet. Das Ergebnis der Standortbestimmung wurde von den Sozialarbeitenden als zielführend bezeichnet, der Prozess aber als deutlich zu aufwendig beurteilt. Folgende Massnahmen wurden in der Folge getestet und vielfach in die tägliche Praxis der Sozialdienste aufgenommen:
- Integration eines Notizblattes in den Beratungsprozess mit dem Ziel, durch die Beobachtung der Sozialhilfebeziehenden beim Erstellen einfacher Notizen eine erste Einschätzung darüber machen zu können, ob ein Förderbedarf im Bereich der Grundkompetenzen besteht. Auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob weitere Fragen gestellt oder detailliertere Abklärungen angestrebt werden sollen.
- Ein Katalog an Fragen, die im Beratungsprozess zum groben Einschätzen der Grundkompetenzen gestellt werden können, wurde erarbeitet. Aus den Antworten und Beobachtungen können Rückschlüsse auf die Grundkompetenzen gezogen werden.
Anpassung interner Prozesse, Dokumente und Konzepte
Alle teilnehmenden Sozialdienste investierten in die Anpassung der internen Prozesse, um Aus- und Weiterbildung systematisch zu erfassen und zu dokumentieren. Dazu gehörte auch, die vorhandenen internen und externen Schnittstellen zu identifizieren und zu klären. Die Sozialdienste überarbeiteten Konzepte, Formulare und Prozesse und erweiterten sie um den Fokus Bildung. Diese Arbeiten resultierten in überarbeiteten Vorlagen für die Situationsanalyse, den Intakebericht oder den Ablauf des Intakes. In einigen der teilnehmenden Sozialdienste wurden diese neuen und ergänzten Prozesse getestet und evaluiert. In anderen Sozialdiensten ist die Evaluation zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch am Laufen. Die angepassten Dokumente wurden für die teilnehmenden Sozialdienste auf einer internen Austauschplattform der SKOS abgelegt.
Einige Sozialdienste leisteten umfassende konzeptuelle Arbeiten. Es entstand ein Leitfaden zur Förderung der Bildung im Beratungsprozess, ein «Konzept Grundkompetenzförderung» sowie ein internes Schulungskonzept, das es ermöglichen soll, das Wissen in der Organisation zu verankern. Von einer Bildungsexpertin wurde ein Konzept für ein «Lernloft» erarbeitet, der im Kanton Thurgau auf Initiative des Sozialdiensts Eschlikon eröffnet wurde. Exemplarisch für die konzeptuelle Arbeit kann das «Konzept Grundkompetenzen» des Sozialdiensts Dietikon veröffentlicht werden, das im Rahmen der WBO erarbeitet wurde (siehe Kasten).
Vernetzung mit der Bildung
In den Sozialdiensten wurden Übersichten über regionale Bildungsangebote erarbeitet. Sie enthalten die bestehenden Angebote im Bereich der Bildung und der Arbeitsintegration, die für den jeweiligen Sozialdienst zugänglich sind. Das Bewusstsein darüber, dass Sozialhilfebeziehende Kurse besuchen können, die im Rahmen des Weiterbildungsgesetzes angeboten werden, konnte im Rahmen der WBO deutlich gestärkt werden.
Die Angebote im Bereich der Sprachförderung in der Region waren bei den Sozialarbeitenden bereits vor Projektbeginn gut bekannt und wurden rege genutzt. Andere Grundkompetenzkurse wie Lesen, Schreiben, Alltagsmathematik und IKT waren hingegen weniger bekannt und wurden nicht systematisch genutzt. Recherchen der Expertinnen der Weiterbildung konnten bisher unbekannte Angebote aufzeigen. Es wurden aber auch regionale Angebotslücken identifiziert. Die bestehenden Angebote im Bereich Grundkompetenzen konzentrieren sich oft auf die Einzugsgebiete grösserer Städte. Teilweise wurden daher Angebote über die Kantonsgrenzen hinweg genutzt, wenn diese näher beim Sozialdienst waren.
Im Projektverlauf hat sich die Vernetzung der teilnehmenden Sozialdienste mit Bildungsanbietern in der Region deutlich verbessert. Der Sozialdienst Biel z.B. hat ein Austauschtreffen mit Anbietern organisiert mit dem Ziel, Bedarf und Zusammenarbeit zu besprechen. Die «Lernstuben» im Kanton Zürich wurden ein Anknüpfungspunkt für den Sozialdienst Dietikon. Sozialhilfebeziehende konnten das Angebot an Grundkompetenzkursen im angrenzenden Altstetten besuchen. Der Kanton Luzern hat durch die Bildungsgutscheine im Bereich Grundkompetenzen das entsprechende Angebot stark ausgebaut. Die Sozialhilfebeziehenden des ZENSO konnten davon profitieren.
Zufriedenstellendes Ergebnis
In den Auswertungsgesprächen mit den involvierten Sozialdiensten hat sich gezeigt, dass die für die Umsetzung der WBO Verantwortlichen mit dem Ergebnis zufrieden sind. Einzelne Sozialdienste konnten alle Ziele erreichen, andere sind noch dran. Das Pilotprojekt WBO unterscheidet sich von anderen Projekten insofern, als das Projekt nicht endet, sondern nach der intensiven Aufbauphase der Umsetzungsprozess weitergeht. Die Ergebnisse:
- Die Mehrheit der Sozialdienste berichtete, dass die WBO inzwischen gut in die Prozesse integriert und die Zusammenarbeit an den internen Schnittstellen etabliert sei. Einige Sozialdienste haben zudem ständige Arbeitsgruppen eingerichtet und Multiplikatoren in unterschiedlichen Abteilungen verankert.
- Regelmässige Schulungen für das ganze Team erachteten alle Sozialdienste als zentral für die nachhaltige Verankerung der WBO. Sie wurden durchgeführt oder sind in Planung.
- Der quantitative Effekt der WBO auf die Teilnahme an Bildungsmassnahmen konnte zum Zeitpunkt der Evaluation nicht ausgewiesen werden. Individuelle Bildungsziele bis hin zu einem EBA- oder EFZ-Abschluss umzusetzen und zu begleiten, braucht mehr Zeit als die WBO-Projektdauer von zwei Jahren. Dennoch wurde im Projektverlauf klar, dass die Sozialdienste vermehrt Sozialhilfebeziehende in Bildungsangebote vermittelt haben.
- Eine sozialdienstinterne Evaluation der Wirkung der WBO nach ein bis zwei Jahren ist in einigen Sozialdiensten geplant, andere wollen schon früher die Wirkung im Hinblick auf die tatsächliche Teilnahme von Sozialhilfebeziehenden an der nonformalen Weiterbildung bis zum Einstieg in den Berufsabschluss für Erwachsene überprüfen.
- Für die nachhaltige Verankerung des Themas im Sozialdienst war auch die politische Ebene wichtig. Durch die Teilnahme am Pilotprojekt, das eine «Weiterbildungsoffensive in der Sozialhilfe» auf nationaler Ebene verfolgt, war es für die Sozialdienste einfacher, das Thema gegenüber den kommunalen Entscheidungsträgern mit Nachdruck zu vertreten.
- Das Zusammenspiel der WBO-Sozialdienste mit dem regionalen und kantonalen Umfeld im Bereich der Förderung von Aus- und Weiterbildung war erfolgsrelevant, insbesondere die Stärkung der Zusammenarbeit mit den für die Förderung der Grundkompetenzen zuständigen Stellen in den Kantonen.
- Im Rahmen der Weiterbildungsoffensive wurden die Systemgrenzen deutlich. Nebst dem Erkennen von Bildungslücken sowie dem Suchen und Begleiten eines sinnvollen Bildungsweges ist oft auch die Finanzierung von Bildungsmassnahmen eine Herausforderung für die Sozialdienste (Positionspapier Bildungskosten).
Zweite Phase der WBO startet 2023
Aufbauend auf den Erfahrungen der Pilotphase der WBO ist eine zweite Projektphase (WBO.2) in Vorbereitung. Hierfür soll das WBO-Modell weiterentwickelt werden. Ziel ist auch, mit der Romandie zusammenzuarbeiten. Es bestehen ferner konzeptionelle Überlegungen, für die WBO.2 flankierende, begleitende Projekte und neue Partnerschaften zur Förderung der Aus- und Weiterbildung von Sozialhilfebeziehenden aufzubauen. Der Projektstart der WBO.2 ist für 2023 geplant.
Beispiele Guter Praxis
Das Zentrum für Soziales (Zenso) Hochdorf Sursee konnte als Partnerorganisation den Kanton Luzern bei der Verbreitung der «Bildungsgutscheine Grundkompetenzen» unterstützen. Die Sozialarbeitenden des Zenso wiesen Personen mit Förderbedarf in den Grundkompetenzen auf die Angebote hin, halfen bei der Auswahl und der Anmeldung. Für die Teilnahme standen Gutscheine im Wert von 500 Franken zur Verfügung. Bei erfolgreicher Teilnahme an einem Kurs konnte im selben Jahr ein zweiter Kurs besucht werden. Von den 754 Personen, die im Jahr 2021 einen Bildungsgutschein bezogen, waren 21 % Sozialhilfebeziehende. Die Sozialhilfebeziehenden im Kanton Luzern und insbesondere des Zenso profitierten von den Bildungsgutscheinen und dem damit verbundenen Ausbau des Angebots im Bereich Grundkompetenzen.
In Eschlikon wurde auf Initiative des WBO-Sozialdienstes Eschlikon und in Zusammenarbeit mit dem Kanton Thurgau ein niederschwelliges Bildungsangebot «Lernloft» aufgebaut. Es wird von der Bildungsdirektion des Kantons Thurgau im Rahmen des kantonalen Programms im Bereich Grundkompetenzen finanziell getragen. Das Lernloft dient als Anlaufstelle für Personen, die ihre Grundkompetenzen verbessern wollen. Die Organisatorin des Lernlofts hat für die Förderung der digitalen Grundkompetenzen eine Zusammenarbeit mit dem WBZ Weinfelden aufgebaut. Ein Jobcoaching wird samstagvormittags angeboten. Sozialdienste in der Region können an dieses Angebot zuweisen. Zudem konnten Kooperationen mit Unternehmen aufgebaut werden, die ihre Dienste zunehmend digital anbieten. Diese Unternehmen bieten im Lernloft mehrmals im Jahr Kurse an, die die digitalen Grundkompetenzen fördern. Die SBB schulen den Umgang mit der SBB-App, die Swisscom gibt einen Kurs zum Umgang mit dem Smartphone, und die Thurgauer Kantonalbank (TKB) einen Kurs in Online-Banking.
Der Sozialdienst Dietikon hat eine Partnerschaft mit der EB Zürich, einem Weiterbildungsanbieter im Bereich Grundkompetenzen, etabliert. Alle Sozialarbeitenden sind über diese Partnerschaft informiert und können das Angebot nutzen. Bei der Führung des Sozialdiensts gibt es ein klares Bekenntnis für eine professionell durchgeführte Standortbestimmung, damit die Entscheidungsgrundlage für die Teilnahme an einer Bildungsmassnahme von Anfang an richtig gespurt ist und frustrierende Fehlzuweisungen vermieden werden. Für die Durchführung einer Standortbestimmung kommt eine Fachperson des Anbieters EBZ vor Ort und führt Standortbestimmungen mit Sozialhilfebeziehenden durch, die von den Sozialarbeitenden angemeldet wurden. Die Ergebnisse werden den fallführenden Sozialarbeitenden übermittelt. Auf dieser Grundlage können Bildungsmassnahmen zielgerichtet und passend geplant und umgesetzt werden.
Link: WBO, SVEB, Evaluationsbericht
Projekt Triage – Instrumente zur Abklärung und Beratung im Bereich Grundkompetenzförderung
Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen und IT-Anwenderkenntnisse bilden die Voraussetzung, damit Erwachsene überhaupt ihren Alltag bewältigen, in der Arbeitswelt bestehen und an Bildung teilnehmen können. Mit dem Projekt «Triage» will die Interkantonale Konferenz für Weiterbildung (IKW) der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) die Praxis der Abklärung dieser Grundkompetenzen vereinfachen und harmonisieren. In einer ersten Projektphase wurden Beratungspersonen, Weiterbildungsanbieter und Direktbetroffene unterstützt. Ziel des Projekts ist es, Beratungspersonen in unterschiedlichen Settings professionelle und praxisnahe Abklärungsinstrumente und -methoden in die Hand zu geben, damit sie das Kompetenzniveau ihrer Beratungsklientel besser ermitteln und daraus individuelle Bildungswege ableiten können.
In der ersten Projektphase im Mai erarbeitete Interface Politikstudien eine Ausgangslage basierend auf internationalen Literaturrecherchen, Interviews mit Schlüsselpersonen und Betroffenen sowie einer Online-Umfrage von Beratungspersonen, identifizierte bereits vorhandene Instrumente im In- und Ausland und eruierte den Unterstützungsbedarf von Beratungspersonen.
Die Studie zu vorhandenen Abklärungs- und Beratungsinstrumenten zeigt auf, dass Abklärungen vor allem im Bereich Sprachkompetenzen vorgenommen werden und in diesem Förderbereich auch am meisten Instrumente vorhanden sind. Zudem wird die Aufgabe der Abklärung von Grundkompetenzen in allen Settings mehrheitlich nicht als expliziter Auftrag wahrgenommen. Vor allem in den Settings der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung und der Sozialberatung ist die Grundkompetenzförderung noch wenig strukturell verankert. Die Studie verdeutlicht zudem, dass ein Bedarf nach einer Übersicht über geeignete Instrumente sowie nach weiteren zielgruppenspezifischen Instrumenten unter anderem auch in Form von Selbsttests zur Abklärung von Grundkompetenzen in allen Förderbereichen besteht. Im 2023 startet die zweite Phase des Projekts. In dieser sollen die bereits bestehenden Instrumente auf ihre Tauglichkeit überprüft und die im Bericht identifizierten Lücken durch Anpassungen und Neuentwicklungen von Instrumenten geschlossen werden.