Die festgestellten positiven Auswirkungen auf die Teilnehmenden haben auch ermutigende Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Aus der Praxis

Palliative Sozialberatung – Kunst und Mensch im Mittelpunkt

02.09.2024
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Manche Menschen, die vom Leben zu sehr verletzt wurden, können nicht an Aktivierungsmassnahmen wie Programmen zur sozialen und beruflichen Eingliederung teilnehmen. Sie sind in ihrer psychischen und/oder physischen Gesundheit zu stark beeinträchtigt. In diesen Fällen scheinen andere niederschwellige Ansätze erfolgreich zu sein: die palliative soziale Begleitung. Ein Dossier von Artias.

Die Idee hinter dem Ansatz der palliativen Sozialarbeit ist die soziale Begleitung durch die Anwesenheit eines Sozialarbeitenden. Die oder der Sozialarbeitende hat kein bestimmtes Ziel, sondern ist dafür da, die Aufmerksamkeit der unterstützten Person zu fördern, zuzuhören, zu beobachten und die Wachsamkeit zu steigern. Mittelpunkt dieser Arbeit ist das Schaffen von Vertrauen. Dies ermöglicht es, die Ressourcen der Betroffenen zu wecken und wieder Kraft zu schöpfen. Auf diese Weise sollen auch die sozialen Bindungen der unterstützten Personen wieder geweckt werden.

 

Walliser Fallbeispiel mit greifbaren Auswirkungen

Im Jahr 2016 führte das Sozialwerk der Arbeiterwohlfahrt (SAH Wallis) die Massnahme «Aktive soziale Integration» (ASI) ein, die vom Sozialdienst des Kantons Wallis und von der Stadt Sitten mitfinanziert wird. Das Programm unterscheidet sich deutlich von den Programmen, die bei den Sozialdiensten häufig im Vordergrund stehen. Das Programm beruht auf Freiwilligkeit und schreibt den unterstützten Personen keine Ziele vor. Die Teilnehmenden können sich frei äussern, an verschiedenen Aktivitäten teilnehmen oder auch nichts tun. Sie können zu jeder beliebigen Zeit kommen oder auch aufhören, wann immer sie wollen. Als Medium für das Programm wurde die Kunst gewählt, um das Selbstwertgefühl zu steigern, die physische, psychische und soziale Gesundheit zu verbessern, soziale Bindungen zu stärken und die persönlichen Ressourcen der das Angebot Nutzenden zu reaktivieren. In der Praxis ermöglichte dies den unterstützten Personen, sich über künstlerische Utensilien und Entscheidungen auszutauschen und ihre Arbeit in Ausstellungen zu präsentieren.

In einer Studie der HETS Wallis wurden die Auswirkungen eines solchen Programms sowohl auf die unterstützten Personen als auch auf die Gesellschaft im Allgemeinen gemessen. Nach sechs Monaten im Programm verbesserten die Teilnehmenden ihren Gesundheitszustand, indem sie weniger Medikamente einnahmen, weniger psychiatrische Betreuung benötigten und ihre körperliche, psychische und soziale Fitness verbesserten. In der Folge stieg auch das Selbstwertgefühl der Teilnehmenden, und sie konnten verloren geglaubte Fähigkeiten wieder mobilisieren.

Auch die soziale Dimension wurde durch das Programm positiv beeinflusst. Die häufig sozial isolierten Personen hatten wieder die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Zunächst fand dies mit anderen Teilnehmenden des Programms statt, da sie sich über die verschiedenen von ASI angebotenen Workshops austauschen konnten. So konnten im Alltag der ASI wieder soziale Interaktionen entstehen. Schliesslich schafften es die unterstützten Personen, wieder Verbindungen zu alten Beziehungen in ihrem Privatleben aufzunehmen, zu denen der Kontakt abgebrochen war. Durch die Kunst konnten die Nutzer also aus ihrer sozialen Isolation herausfinden.

Finanzielle Entlastung

Diese positiven Auswirkungen auf individueller Ebene haben auch ermutigende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Insgesamt gingen die Gesundheits- und Sicherheitsprobleme im Bereich des Projekts deutlich zurück. Da sich die Gesundheitskosten der unterstützten Personen aufgrund ihrer besseren körperlichen Verfassung verringerten, wurde das Budget der Gemeinschaft entlastet. Auch die früheren teilweise unpassenden Verhaltensweisen und Straftaten durch Teilnehmende des Programms gingen zurück. Die Polizei musste weniger eingreifen, was sich ebenfalls direkt auf die öffentlichen Ausgaben auswirkt. Die Marginalität im öffentlichen Raum wurde ebenfalls verringert, da Betroffene nun einen geeigneten und beliebten Ort hatten und nicht mehr die Strasse als einzigen Fluchtweg nutzten. Dies hat das Sicherheitsgefühl der Stadtbewohner erhöht.

Dennoch werden in der Studie auch einige Fallstricke aufgezeigt. So kann das ASI-Programm beispielsweise als Schutzinsel, als Komfortzone wahrgenommen werden, die die unterstützten Personen nicht mehr verlassen wollen, obwohl ihre verbesserte Gesundheit es zulassen würde. Dies kann auch zu einer Angst davor führen, sich in eine sozioprofessionelle Eingliederungsmassnahme oder ins Vereinsleben zu integrieren. Weiter muss festgestellt werden, dass die begleiteten Personen trotz allem ihre Autonomie häufig nicht vollständig wiedererlangten, noch immer betreut werden und den Fachkräften Rechenschaft ablegen mussten.

Ein Paradigmenwechsel auch für Fachleute

Die am Programm beteiligten Fachleute, die sogenannten Werkstattleitenden, müssen ihre Handlungsweise zunächst überdenken. Sie müssen sich von ihrem Paradigma lösen, das primär auf die berufliche Eingliederung der unterstützten Personen abzielt. Sie müssen sich vom primären Ziel der beruflichen Integration entfernen, um sich dem Ziel der sozialen Integration anzunähern.

Hierfür sind hybride Berufsprofile und eine grosse Zahl an Kenntnissen für eine erfolgreiche Betreuung von entscheidender Bedeutung. Die Werkstattleitenden müssen ihre Fähigkeiten zur Begleitung hervorheben, die nicht auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet sind. Sie haben eine eher statische Rolle, indem sie präsent sind, wenn eine unterstützte Person beispielsweise nur auf einen Kaffee vorbeikommen möchte, ohne eine Interaktion anzustreben. In den Workshops muss sich diese passive Präsenz jedoch auch in Richtung einer soziokulturellen Animation entwickeln, um die Gruppe und ihre Fähigkeiten zu mobilisieren. Ausserdem bleiben die Workshopleitenden auch klassische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, wenn sie die unterstützten Personen bei ihren administrativen Schritten beim Staat unterstützen.

Das ASI-Programm stellt den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Betreuung, indem es ihn wahrnimmt und ihm hilft, seine Würde wiederzuerlangen. ASI hebt auch die Kraft hervor, die durch künstlerisches Schaffen entstehen kann, was allzu oft als nutzlose Aktivität im finanziellen Sinn angesehen wird. Hier zeigt sie ihre zentrale Bedeutung für die menschliche Existenz, das Selbstvertrauen, den Selbstwert und die Beziehung zu anderen Menschen. Doch auch wenn man sich nur auf die wirtschaftliche Perspektive konzentriert, ist ein solches Programm, wenn es gut umgesetzt und organisiert wird, finanziell sehr interessant, da die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen die Investitionen übersteigen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Walliser Erfahrung mit dieser Art der sozialen Begleitung von Menschen, die aus dem sozialen und beruflichen System herausgefallen sind, zahlreich Nachahmung findet.

Dossier du mois d’Artias

« Fondements et mise en pratique de ­l’accompagnement social palliatif » Vivianne Châtel, ­Guillaume Sonnati et Marc-Henry Soulet ; Link : artias.ch

Salomon Bennour
Redaktioneller Mitarbeiter