Forschung

Obdachlosigkeit in der Schweiz – (Miss-)Verständnisse, Politiken und Strategien der Kantone und Gemeinden

06.06.2022
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Staatliche Behörden tendieren dazu, Obdachlosigkeit als individuelles Problem zu betrachten. Darauf jedenfalls weist eine Analyse hin, die sich mit Formen der Beteiligung von staatlichen Stellen an Obdachlosenhilfe befasste. Ein solches Verständnis von Obdachlosigkeit gilt es zu überdenken, und es gilt zudem, über eigene staatliche Handlungsmöglichkeiten nachzudenken. Eine Studie der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

Obdachlosigkeit führt dazu, dass die Betroffenen in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt sind und ihre Grundrechte massiv tangiert werden. Wer in prekären Wohnverhältnissen lebt oder von Obdachlosigkeit betroffen ist, kann die eigenen Freiheits- und Partizipationsrechte nicht wahrnehmen und sieht auch das Recht auf Privatsphäre aufgrund des fehlenden sicheren Rückzugsortes beschnitten. Der Staat hat hier eine Verpflichtung, über sozialstaatliche Garantien und Massnahmen den Zugang zu diesen Rechten zu sichern und Wohnprekarität vorzubeugen und zu verhindern. Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW hat diese staatliche Verantwortung in der vom Bundesamt für Wohnungswesen beauftragten Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz – Verständnisse, Politiken und Strategien der Kantone und Gemeinden» auf kantonaler und kommunaler Ebene untersucht. Dabei wurden Verantwortliche aus den kantonalen Sozialdepartementen interviewt und alle Schweizer Gemeinden online befragt.

Eine nationale Gesamtstrategie fehlt

Wie aus Voruntersuchungen bekannt ist, wird die staatliche Verantwortung zur Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit in der Schweiz auf höchster staatlicher Ebene nicht explizit wahrgenommen (s. «Obdachlosigkeit: erster Länderbericht der Schweiz»). Obdachlosigkeit wird national weder offiziell definiert noch in Form von gesetzlichen Grundlagen oder politischen Strategien als Themenfeld staatlichen Handelns festgelegt. Die Schweiz anerkennt in der Bundesverfassung zwar das Grundrecht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) und garantiert damit einen nicht einschränkbaren Minimalanspruch auf Nahrung, Kleidung, medizinische Nothilfe und Unterkunft. Ein allgemeingültiges und justiziables Recht auf eine angemessene Wohnung ist allerdings nicht vorgesehen. Die Unterstützung von bedürftigen Menschen wird bereits in der Bundesverfassung in die Kompetenz der Kantone gegeben (Art. 115 BV).

Eingeschränktes Problembewusstsein in den Kantonen

Aus den Untersuchungen auf kantonaler Ebene geht hervor, dass die Unterbringung von Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, zwar grundsätzlich als staatliche Verantwortung anerkannt wird. Doch die wenigsten Kantone haben daraus einen strategischen Umgang abgeleitet. Das führt dazu, dass auch Kantone, in denen Obdachlosigkeit und drohender Wohnungsverlust in grösserem Ausmass existieren, kaum konkrete Zahlen nennen können und auch keine Instrumente kennen, mit denen sie solche erheben könnten. Oft fehlt zudem eine Übersicht über die vorhandenen zivilgesellschaftlichen Angebote der Wohn- und Obdachlosenhilfe. Insgesamt führt dies dazu, dass in den Beobachtungsradius der Behörden meist nur jene Menschen geraten, die aufgrund von Suchterkrankungen, Migrationsgeschichten oder familiären Konflikten Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden bzw. zu behalten.

Das Wissen über die Vorstufen von Obdachlosigkeit, über die prekären, unsicheren oder ungesicherten Wohnverhältnisse fällt gering aus. Dies erschwert die Entwicklung von wirksamen Methoden zur Prävention und Abwendung von Obdachlosigkeit und drohender Wohnungslosigkeit. Insgesamt fällt bei der Befragung der Kantonsvertretenden auf, dass diverse staatliche Aufgaben im Bereich der sozialen Sicherheit in der operativen Zuständigkeit der Gemeinden gesehen werden.

Abhängigkeit von Drittorganisationen in den Gemeinden

Auf Ebene der Gemeinden ergibt sich ein ähnliches Bild: Es bestehen Unklarheiten bei den Zuständigkeiten sowohl zwischen als auch innerhalb staatlicher Ebenen. Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit und drohendem Wohnungsverlust werden in den meisten Gemeinden in der Verantwortung der Sozialdienste der Gemeinde oder der Region gesehen. Damit werden Obdachlosigkeit und drohender Wohnungsverlust in der Schweiz vor allem als individuelle Probleme behandelt und die betroffenen Menschen entsprechend im Rahmen der sozialarbeiterischen Fallarbeit beraten und betreut. Erst in grösseren Gemeinden (ab rund 8000 Einwohnenden) treten neben dem Sozialdienst weitere, Verantwortung übernehmende Stellen dazu, zumeist ebenfalls aus dem Sozialbereich oder der kirchlichen Seelsorge. Bei Gemeinden unter 1200 Einwohnenden ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es gar keine ausgewiesene Ansprechstelle gibt. Erst in den grösseren Städten finden sich differenzierte Beratungs- und Begleitungsangebote unterschiedlicher Träger, Fachstellen für Wohnberatung oder Stiftungen, die z.B. Mietzinsgarantien geben.

Die Beschränkung auf die Sozialdienste widerspiegelt sich in den angebotenen Hilfeleistungen hinsichtlich Wohnens. Im Falle von fehlendem Wohnraum sind die Gemeinden in der Schweiz zu einem Grossteil auf Angebote Dritter angewiesen. Denn der überwiegende Teil der Gemeinden verfügt über keine eigenen Unterbringungsmöglichkeiten. Bei eintretender Wohnungslosigkeit werden Hotelzimmer angemietet oder kurzfristige Notunterkünfte gesucht. Lediglich 20 der 618 Gemeinden, die in der Online-Befragung geantwortet haben, geben an, eigenen Wohnraum vermieten zu können.

Staatliches Leistungsfeld Obdachlosigkeit

Sowohl auf kantonaler als auch auf kommunaler Ebene stellen Strategien und Konzepte, die auf die Prävention und Bekämpfung von Obdachlosigkeit fokussieren, Ausnahmen dar. Strategien, die eine Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren und Akteurinnen erfordern, sind fast ausschliesslich bei städtischen Gemeinden und Gemeinden mit einer Zentrumsfunktion zu finden. Trotz den fehlenden Strategien und Konzepten (oder vielleicht gerade deswegen) formulieren die Gemeinden zahlreiche Herausforderungen bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Diese reichen von grundsätzlichen Themen der Verfügbarkeit von Ressourcen, Zuständigkeiten usw. über allgemeine Erwartungen an eine dem Gemeinwohl verpflichtete Wohnungsversorgung (Kostenmieten, erschwingliches Wohnen, sozial gemischtes Wohnen) bis hin zur Frage, wie bei Wohnungsbesitzenden mehr Kulanz zur Suche einer Lösung im Notfall möglich ist. Dementsprechend sind es Notfallpläne, die in den Gemeinden verbreitet sind; wo sie bestehen, sind durchaus problem- und lösungsorientierte Ideen erkennbar, die auch die Kraft hätten, nachgeahmt zu werden. So etwa das Übergangswohnen im Fall von Zwangsräumungen, das sogenannte Housing-First-Modell, oder Warnsysteme bei drohendem Wohnungsverlust.

Staatlich definiertes Leistungsfeld «Obdachlosigkeit»

Damit Obdachlosigkeit nicht nur im akuten Notfall abgeschwächt und behoben werden kann, sondern auch präventiv verhindert wird, wird von den Autorinnen und Autoren der Studie die Prüfung eines staatlich definierten Leistungsfelds «Obdachlosigkeit» empfohlen. Damit ist nicht gemeint, dass im Bereich der Obdachlosenhilfe alle Leistungen von staatlichen Stellen erbracht werden müssen; vielmehr erlaubt ein Leistungsfeld das Identifizieren von Potenzialen, und es kann NGOs, Freiwillige oder Einzelpersonen zielführend einbeziehen. So kann ein Hilfesystem gestaltet werden, das durch den Einbezug von Fachorganisationen nahe an den Betroffenen ist, über die Beteiligung der Behörden aber auch finanziell abgesichert und sinnvoll weiterentwickelt werden kann. Ein Leistungsfeld könnte zudem dem eingeschränkten Verständnis von Obdachlosigkeit und Unklarheiten bei den Zuständigkeiten entgegenwirken und helfen, Lücken in der Wohnversorgung zu schliessen. Da Obdachlosigkeit häufig als Effekt vorangehender Ausschlussprozesse verstanden wird, müsste ein solches Leistungsfeld als Querschnittsaufgabe gedacht werden.