Obdachlosigkeit in der Schweiz – ein vielschichtiges und wenig bekanntes Phänomen
Die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit an der Schnittstelle von Sozial- und Wohnungspolitik ruft nach einem Bouquet von komplementär wirkenden Massnahmen. Sie betreffen drei Zielbereiche: die Wohnbegleitung, den Zugang zum Wohnraum sowie die Bereitstellung von angemessenen und ausreichenden Wohnungen.
Bislang wurde das Phänomen Obdachlosigkeit kaum öffentlich diskutiert. Entsprechend gibt es auch keine gemeinsamen Vorstellungen betreffend Erscheinungsformen, Ursachen, Ausmass oder Handhabung. Behörden beleuchten ungern gesellschaftliche Schwachstellen und beschämende Realitäten für ein reiches Land. Mit Obdachlosigkeit konfrontierte Menschen verfügen über kein Sprachrohr. Bis jetzt ist somit auch kein entsprechender politischer Druck zustande gekommen.
Das Nichtberücksichtigen von Obdachlosigkeit gilt auch für die Wohnungspolitik des Bundes. Bislang definierte sich diese einzig über das Vorhandensein einer rechtlich gesicherten Wohnung. Es gibt auch keine offiziellen Zahlen zur Wohnungslosigkeit. Diese enge Sichtweise bedeutet, dass Situationen, bei denen die Wohnungsversorgung versagt, einem blinden Fleck in der Wohnungspolitik gleichkommen. Die davon betroffenen Menschen fallen durch die Maschen.
Prekäre Wohnverhältnisse: unangemessene Wohnbedingungen, Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit
Die Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri (FEANTSA) hat eine Typologie erstellt – die sogenannte Ethos-Typologie –, die Lebenssituationen im Zusammenhang mit Ausgrenzung von Wohnraum klassifiziert. Obdachlosigkeit ist die extremste Ausprägung problematischer Wohnsituationen und meist sichtbar. Als «Endstation» von Ausgrenzungsprozessen im Wohnungsmarkt bedeutet sie ein Leben auf der Strasse oder das Unterkommen in Notschlafstellen. Unangemessene Wohnverhältnisse stehen häufig am Anfang einer Wirkungskette, die in ungesichertes Wohnen münden kann. Dies liegt vor bei einem unmittelbar bevorstehenden Verlust des Mietverhältnisses oder bei Unterkunftslösungen in Abhängigkeit von Dritten. Von Wohnungslosigkeit spricht man, wenn Menschen in Wohnheimen oder spezialisierten Einrichtungen platziert werden.
Die Corona-Krise hat diesen Prozess der Prekarisierung an die öffentlichkeit gebracht. In Grossstädten gerieten auf einen Schlag zahlreiche Menschen in Not. Ihre oft bereits knapp tragbare Wohnsituation verschlechterte sich zusätzlich, oder der Erhalt ihrer Unterkunft wurde gar infrage gestellt. Sie lebten beispielsweise in einem ungesicherten Untermietverhältnis, konnten die für sie bereits hohe Miete aufgrund von Einkommenseinbussen nicht mehr begleichen. Menschen, die aufgrund illegaler Mehrfachvermietungen eine Wohnung teilen mussten, litten während des Lockdowns unter äusserst beengenden Raumverhältnissen.
Wohnungslosigkeit verstehen und beheben
Wohnungslosigkeit hat viele, oft verschleierte Gesichter. Sie ist schwer quantifizierbar und nicht einfach einzuordnen. Welches Politikfeld ist dafür zuständig? Worin gründet das Problem? Liegt es bei den Betroffenen, weil sie nicht in der Lage sind, sich in die Gesellschaft einzuordnen? Weil sie ihr Verhalten nicht an nachbarschaftliche Zwänge anpassen können? Weil sie es nicht schaffen, ihr Haushaltsbudget so zu verwalten, dass ein genügender Anteil fürs Wohnen übrig bleibt? Oder haben Bund und Kantone versagt? Sie haben gemäss Bundesverfassung (Art. 41 Abs. 1e) den Auftrag, sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür einzusetzen, dass Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können. Weder Politik noch Gesellschaft haben ein allgemein akzeptiertes, geteiltes Problemverständnis. Das behindert eine entsprechende Sensibilisierung und die Erarbeitung von Massnahmen sowie das Etablieren von Strukturen.
Im Rahmen des Nationalen Programms gegen Armut wurde erkannt, dass Wohnen für Menschen in schwierigen Lebenslagen ein zentraler Aspekt im Alltag ist. Ebenso wurde festgehalten, dass unpassende Wohnsituationen die weiteren Lebensbereiche stark beeinträchtigen und zu einer Armutsspirale werden können. Aus diesem Grund wurden im Nationalen Programm gegen Armut fehlende Grundlagen erarbeitet. Diese daraus gewonnenen Erkenntnisse führten zur wichtigen Einsicht, dass Wohnungsverlust und Obdachlosigkeit nicht losgelöst von den vorgelagerten Problemen betrachtet werden können.
Wissenslücken schliessen und Akteure vernetzen
Das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) hat eine Studie in Auftrag gegeben zur Wahrnehmung von Obdachlosigkeit, deren Gründe und Umgang damit seitens der Kantone und Gemeinden («Obdachlosigkeit in der Schweiz. Verständnisse, Politiken und Strategien der Kantone und Gemeinden»). Mit der Studie sollen bestehende Wissenslücken geschlossen werden. Die Auswertung der Erhebungen ist noch nicht abgeschlossen. Erste Resultate deuten darauf hin, dass die Problematik weitgehend unerfasst bleibt. Sie bestätigen viele der oben gemachten Aussagen: Weder Kantone noch Gemeinden können problematische Wohnsituationen systematisch erfassen. Die Situation bei ihnen wird als nicht problematisch wahrgenommen. Deswegen taucht das Problem auch nicht auf der politischen Agenda auf. Das Verständnis fokussiert überwiegend auf die sichtbare Wohnungslosigkeit. Ursachen werden bei den Betroffenen selbst gesucht. Anlaufstellen sind hauptsächlich in der Sozialfürsorge angesiedelt. Lösungsansätze bei Gemeinden und Kantonen sind nicht auf Wohnfragen ausgerichtet, sogar bei Gemeinden und Kantonen, die ein entsprechendes Hilfesystem aufgebaut haben.
Beim Thema Obdachlosigkeit sind vorwiegend Kantone und Gemeinden zuständig. Der Bund kann auf einer übergeordneten Ebene einen Beitrag leisten, indem er in der Sozialpolitik weniger bekannte, aber für diese Querschnittsproblematik unabdingbare wohnungspolitische Ansätze einbringt. Konkret kann das BWO über die Wohnforschung Wissenslücken beheben, entsprechendes Wissen vermitteln, das Verständnis für die Mechanismen des Wohnungsmarktes erhöhen und Akteure untereinander vernetzen.
Eine gesamtheitliche Sichtweise ruft nach Massnahmen für das ganze Spektrum der Erscheinungsformen, die auf drei verschiedenen Ebenen wirken. Neben personenzentrierten auf Stärkung der Wohnkompetenzen und Wohnbegleitung angelegten Massnahmen braucht es auch Vorkehrungen für einen besseren Zugang zum Wohnraum. Dazu gehören finanzielle Hilfen oder auch Vereinbarungen mit Vermietern, einen gewissen Anteil der Wohnungen für schwer vermittelbare Haushalte zu reservieren. Somit unterliegen benachteiligte Wohnungssuchende im Konkurrenzkampf mit anderen Bewerbenden nicht systematisch.
Zusammenarbeit mit der Immobilienwirtschaft lohnt sich
Ein weiterer Hebel ist auf der strukturellen Ebene angesiedelt und betrifft den Wohnungsmarkt, insbesondere das Wohnungsangebot im untersten Marktsegment. Gefragt sind hier Massnahmen und Wohnungsangebote, die diese Defizite beheben. Denn in Märkten mit starker Nachfrage werden schwache Marktteilnehmer aufgrund von Preissteigerungen und Verlust von günstigem Wohnraum durch teurere Ersatzneubauten noch mehr an den Rand gedrängt.
Die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit an der Schnittstelle von Sozial- und Wohnungspolitik bedingt den Einsatz eines Bouquets von unverzichtbaren und komplementär wirkenden Massnahmen. Es gilt dabei, die in der Immobilienwirtschaft vorherrschenden ökonomischen Gegebenheiten anzuerkennen und sie nicht pauschal als ausbeuterisch zu bewerten. Die Wohnversorgung basiert vorwiegend auf der Privatwirtschaft. Bei der Bekämpfung von prekären Wohnverhältnissen und der Wohnungslosigkeit ist man folglich auf das Mitwirken der Immobilienwirtschaft angewiesen.