Im Gespräch

«Ich würde mir wünschen, dass die Erkenntnisse und die Instrumente noch mehr Verbreitung und Umsetzung erfahren.»

03.06.2024
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«Armut ist in der reichen Schweiz nach wie vor teilweise ein Randthema», sagt Astrid Wüthrich. Sie leitet seit 2021 die nationale Armutsplattform des Bundes. Wüthrich hofft, mit ihrer Arbeit Politik und Bevölkerung für das Thema Armut zu sensibilisieren. Ob die Plattform, die über ein Budget von 250 000.- Franken verfügt, weitergeführt wird, entscheidet der Bundesrat demnächst.* Der erste Bericht über das Armutsmonitoring soll 2025 erscheinen.

ZESO: Frau Wüthrich, vor zehn Jahren hat der Bund das Nationale Programm gegen Armut lanciert. Seit fünf Jahren gibt es zur Umsetzung der Ziele die Plattform zur Prävention und Bekämpfung von Armut. Sie hat eine Vielzahl von Studien und Veranstaltungen realisiert. Das zweite Fünfjahresprogramm wird nun abgeschlossen. Was hat es bisher gebracht?

Astrid Wüthrich: Demnächst wird die Evaluation des Programms veröffentlicht. Sie zeigt, dass wir mit dem Programm im Vergleich zu den zur Verfügung gestellten Mitteln sehr viel erreicht haben. Unser Fokus war es, Grundlagen und Wissen zu ausgewählten Armutsthemen zu schaffen und darauf basierend Leitfäden für die Praxis zu erarbeiten. Die Praxisleitfäden werden offenbar sehr geschätzt. Wichtig war auch die Vernetzung der Akteure über die Plattform und die Begleitgruppen. Ich würde mir wünschen, dass die Erkenntnisse und die Instrumente noch mehr Verbreitung und Umsetzung erfahren. Wir haben zwar eine treue Anhängerschaft, aber wir hätten gerne mehr Kanäle, um breiter bekannt zu werden und zusammen mit den Kantonen an der Umsetzung zu arbeiten.

Während der Corona-Pandemie bekam Armut plötzlich ein neues Gesicht via all die Menschen, die für Lebensmittel Schlange standen – ein ungewohntes Bild für die Schweiz. So wurde Armutsprävention ein wichtiges Thema – aus der Warte der Sozialhilfe war die Prävention hier erfolgreich. Was hat die Plattform dazu beigetragen?

Zu Beginn war die Sorge – auch seitens der SKOS – gross, dass die Armut infolge der Ereignisse rasch ansteigen würde. Hier hat es sich die Plattform zur Aufgabe gemacht, Wissen zusammenzutragen, die mit dem Thema Armut befassten Stellen zusammenzubringen und herauszufinden, wo es Handlungsbedarf gab. Die Plattform hat bis 2022 dann auch ein Monitoring geführt zu Studien und Veröffentlichungen, die sich der Auswirkung der Pandemie auf die Armutssituation in der Schweiz widmeten. Dazu gibt es einen Synthesebericht.

Die Plattform hat sich neben der Pandemie mit einer Reihe von weiteren Schwerpunktthemen befasst. Zum Beispiel mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Mehrfachproblematiken. Welche konkreten Ergebnisse wurden hier erzielt?

Wenn man die Studie liest, denkt man oft: «Ja, ist ja klar.» Sie trägt aber erstmals die verschiedenen Aspekte des Phänomens strukturiert und wissenschaftlich abgestützt zusammen. Wichtig scheint mir zum Beispiel, dass einzelne Gruppen, die besonders gefährdet sind, beschrieben wurden. Das sind – wenig überraschend – beispielsweise junge Mütter, die nicht nur eine Ausbildung und den Berufseinstieg meistern müssen, sondern zusätzlich durch die Mutterschaft mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Das ist ein Thema, bei dem es Handlungsbedarf gibt, auch wenn vereinzelt bereits gute Praxisbeispiele entstanden sind. Aber es gibt sie vor allem lokal. Angebote sind nicht breit implementiert.

Intensiv hat sich die Plattform auch mit dem Thema Bildung/Grundkompetenzen und Armut befasst, was ja auch für die SKOS ein zentrales Thema ist. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, Betroffene ohne Bildung in den Lebenswelten zu erreichen und herauszufinden, warum sie sich nicht bilden. Was ist die Quintessenz?

Bildung ist klar der wichtigste Türöffner für den Arbeitsmarkt. Dennoch gibt es Menschen, die keine Berufsausbildung machen. Gemäss einer unserer Studien, die unter Einbezug von Betroffenen verfasst wurde, gibt es unter den Sozialhilfebeziehenden ohne Ausbildung verschiedene Typen. Die einen sind an Bildungsangeboten interessiert und nehmen Angebote wahr. Andere, wie alleinerziehende junge Mütter, haben neben Teilzeitarbeit, familiären Verpflichtungen und dem Stress durch die Armutssituation keine Ressourcen dafür. Wieder andere sind nicht zu weiteren Bildungsmassnahmen bereit, weil sie einen Marathon hinter sich haben, um ihren Anspruch auf Sozialhilfe geltend zu machen. Sie haben dann das Gefühl, dass der Reigen an Forderungen an sie nie endet, um Sozialhilfe zu erhalten. Es ist daher wichtig, die Massnahmen an die Bedürfnisse dieser unterschiedlichen Gruppen anzupassen.

Vielleicht ein wenig überraschend für manche war, dass die Plattform dem Thema Partizipation viel Raum gab und ein konkretes Projekt auf den Weg brachte. Wie kam es dazu?

Am Anfang stand die Untersuchung zur rechtlichen Situation von Armutsbetroffenen. Sie hatte gezeigt, dass es hier grosse Unterschiede in der Sozialhilfe gibt. Wie werden Betroffene beispielsweise darüber aufgeklärt, dass es sich bei einem Entscheid um eine Verfügung handelt, gegen die Beschwerde eingereicht werden kann? Wie lange sind die Beschwerdefristen? Ich fand es erstaunlich, dass diese Erkenntnisse, die wir an einer partizipativ organisierten Tagung vorgestellt hatten, bei den Akteuren nicht eine grössere Resonanz ausgelöst haben. Auch wenn die Verantwortung für die Sozialhilfe auf der Kantonsebene liegt, müsste man doch für möglichst gleiche Rahmenbedingungen einstehen.

Die SKOS hat sich des Themas angenommen. Die SKOS beschäftigt vor allem der Zugang zur Rechtsberatung. Hier stellte die Studie auch erhebliche Defizite fest. 

Es gibt bereits Städte, die reagiert haben und begannen bspw. eine Rechtsberatung zu finanzieren. Und es gibt auch an verschiedenen Orten private Initiativen. Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass unsere Arbeit konkrete Wirkung zeigt. Nach der Tagung, an der auch Betroffene mitgewirkt haben, wollten wir die positiven Erfahrungen nutzen und haben beschlossen, den Schwerpunkt weiterzubearbeiten. Wir liessen eine ebenfalls partizipativ verfasste Studie durchführen, die Möglichkeiten aufzeigen sollte, wie man Armutsbetroffenen eine repräsentative Stimme geben kann. Wir haben uns für die nächste Etappe vorgenommen, konkrete Möglichkeiten hierfür vertieft zu prüfen.

Haben Sie bereits eine Idee, welche Möglichkeiten es gäbe, Armutsbetroffenen eine repräsentative Stimme zu geben? 

Wie eine solche Struktur aussehen könnte und wie sie in politische Prozesse involviert würde, wären zu prüfende Fragen. Wie möchte sich dieses Gremium verstanden wissen, wie möchte es arbeiten, sind weitere. Es sind noch viele Fragen offen.

Ein weiteres Schwerpunktthema sind die Familien. Sie haben ein besonders hohes Armutsrisiko. Familien stehen infolge der steigenden Mieten und Krankenkassenprämien besonders unter finanziellem Stress. Was hat die Plattform hier erreicht?

Die Studie zur Familienarmut läuft noch bis kommenden Herbst. Mit ihr werden wir das Fünfjahresprogramm abschliessen. Es wird in letzter Zeit viel über Kinder gesprochen, aber wir möchten die Frage nach der Familienarmut stellen, weil Kinder immer Teil eines Familiensystems sind, selbst wenn sie nicht in der Familie selbst leben. Es ist klar, dass wir uns auch mit der Situation von Kindern und mit den Auswirkungen von Armut auf sie beschäftigen werden. Neben dieser Form, über Familienarmut zu sprechen, könnten wir uns auch vorstellen, mögliche Varianten vertieft zu prüfen, wie Familien in prekären Situationen besser unterstützt werden können. Es gab Vorstösse im Parlament dazu, die aber keine Mehrheiten fanden. Das ist aus fachlicher Sicht schade.

Die kantonalen Aktivitäten im Bereich der Sozial- und Armutsberichterstattung haben seit den 2000er-Jahren deutlich zugenommen. Mittlerweile haben 21 Kantone mindestens einmal einen Sozial- oder Armutsbericht oder eine anderweitige Sozialberichterstattung publiziert. Nun soll auch ein nationales Armutsmonitoring erstellt werden. Was kann es bringen?

Wir sind vom Parlament beauftragt, alle fünf Jahre einen nationalen Bericht zu Armut zu veröffentlichen. Dieser soll einerseits eine Übersicht über die allgemeine Armutssituation der Bevölkerung in unterschiedlichen Lebensbereichen geben. Andererseits sollen Massnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Armut dargestellt werden. Dieses Armutsmonitoring wird also für Bund, Kantone und Gemeinden Steuerungswissen zur Verfügung stellen, um die Bekämpfung und Prävention stetig weiterzuentwickeln.

Warum verwendet man nicht die einzelnen Berichte der Kantone?

Die Berichte in den Kantonen sind sehr unterschiedlich. Das hat mit unterschiedlichen Schwerpunkten, den verfügbaren Daten und mit weiteren Faktoren zu tun. Wir haben dies in einem Bericht, den wir auch veröffentlicht haben, analysiert. Damit wir Aussagen zur Situation der Menschen in der ganzen Schweiz machen können, sind wir auf nationale Statistiken und Datengrundlagen angewiesen, die das Bundesamt für Statistik erstellt, oder auch auf Daten aus den Sozialversicherungen.

Der erste Bericht soll Ende 2025 vorliegen. Was erhoffen Sie sich persönlich davon?

Ich würde mir wünschen, dass unser Bericht Politik und Bevölkerung für das Thema sensibilisiert. Armut in der reichen Schweiz ist nach wie vor teilweise ein Randthema. Zudem erhoffe ich mir, dass der Bericht einen Dialog zwischen den zuständigen Stellen auf den Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden auslöst oder intensiviert. Armutsprävention und -bekämpfung findet in vielen Lebensbereichen der Menschen statt und ist darum eine Aufgabe, die in verschiedenen Politikfeldern angegangen werden muss.

Nun stellt sich die Frage, ob das Armutsprogramm fortgeführt werden wird. Tatsache ist, dass die Armutsquote seit 2014 eine steigende Tendenz aufweist. Zeigt das Programm also keine Wirkung?

Das ist eine Diskussion, die wir auch mit anderen Bundesstellen führen. Unsere Mittel belaufen sich auf rund 250 000 Franken pro Jahr. Damit können wir nicht die Armutsquote senken, wir können aber Grundlagenwissen erarbeiten, Best Practice aufzeigen und die Akteure vernetzen. Wir sehen uns eher als Triebfeder, durch die Vernetzung, das Aufnehmen von Themen und das zur Verfügungstellen von Wissen geschehen kann.

Astrid Wüthrich ist seit 2021 Vizedirektorin des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) und Leiterin der Plattform gegen Armut. Wüthrich ist Historikerin und Soziologin mit einer Managementweiterbildung. Sie ist im BSV für das Geschäftsfeld Familien, Generationen und Gesellschaft zuständig und befasst sich mit den Themen Familienzulagen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kinder- und Jugendpolitik sowie Alterspolitik.

In diesen Wochen sollte der Entscheid des Bundesrats fallen, ob Plattform und Monitoring weitergeführt werden. Was glauben Sie, wie der Entscheid ausfallen wird?

Das ist offen. Das Armutsmonitoring wird in jedem Fall durchgeführt, und es braucht daher eine Struktur, um über die gesammelten Daten zu sprechen. In jedem Fall ist Armutsprävention eine dauerhafte Aufgabe für den Bund, ganz unabhängig davon, ob es die Plattform weiterhin gibt.

Wie würde die Plattform künftig aussehen? Was fehlt noch?

Wir haben wie gesagt mit wenig Mitteln viel erreicht. Wir wünschen uns, dass unsere Ergebnisse noch breiter zur Kenntnis genommen werden. Dazu möchten wir die Zusammenarbeit mit Kantonen und Gemeinden, aber auch Akteuren wie der SKOS stärken und vermehrt Themen gemeinsam bearbeiten. Wir würden zudem gerne Möglichkeiten suchen, wie armutsbetroffene Menschen in politischen Prozessen vermehrt eine Stimme finden. Partizipation war bereits in der zu Ende gehenden Phase ein wichtiges Thema, und wir haben verschiedene Aktivitäten unter Einbezug von armutsbetroffenen oder armutserfahrenen Personen gestaltet.

Woher nehmen Sie Ihr persönliches Engagement für die Armutsprävention? Ist Ihnen Armut irgendwo in Ihrem Leben begegnet?

Persönlich bin ich in eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. In Kreuzlingen, wo ich aufgewachsen bin, lebten schon in den 1980er-Jahren viele Ausländerinnen und Ausländer. Fast die Hälfte der Kinder in der Schule kam aus Italien, dem damaligen Jugoslawien, der Türkei. Ihre Eltern arbeiteten oftmals als Hilfsarbeiter. Kinder aus meiner Klasse lebten in Armut, weil ihre Mutter alleinerziehend war – sei dies als Witwe oder weil sie geschieden war. Wenn ich die ehemaligen Schulkolleginnen und -kollegen heute sehe, ist der Einfluss ihrer Herkunft auf ihr Leben deutlich zu sehen. Es gibt Kinder, die einen sozialen Aufstieg hinter sich haben. Aber einige haben auch eine auffallend ähnliche berufliche Karriere wie ihre Eltern und stehen in befristeten Arbeitsverhältnissen oder arbeiten als Hilfsarbeiter. Ganz grundsätzlich finde ich, dass es ein staatspolitisches Interesse ist, sich für die Chancengleichheit einzusetzen und dafür, dass Armut nicht zu einem Stigma wird, sondern dass die Menschen die Unterstützung erhalten, sie zu überwinden.

Nationale Plattform gegen Armut

Das Nationale Programm gegen Armut wurde 2014 zur Umsetzung der 2010 verabschiedeten Strategie zur Bekämpfung von Armut ins Leben gerufen. Seit 2019 bis 2024 setzen Bund, Kantone, Städte und Gemeinden sowie Nichtregierungsorganisationen die Nationale Plattform gegen Armut um. Der Bund stellt für die Aktivitäten der Plattform jährlich insgesamt 250 000 Franken zur Verfügung. Die Nationale Plattform gegen Armut hat seit 2019 zu Schwerpunktthemen der Armutsprävention und -bekämpfung Wissen gebündelt, Grundlagen erarbeitet, innovative Ansätze identifiziert und Fachpersonen informiert und vernetzt. Gearbeitet wurde in vier Handlungsfeldern: Bildung, sozialer und beruflicher Integration, Lebensbedingungen (Wohnen, Familie usw.). An der Nationalen Konferenz gegen Armut 2024 im August wird sie Bilanz ziehen und den aktuellen und zukünftigen Handlungsbedarf in der Armutsprävention und -bekämpfung in der Schweiz mit Fachpersonen, politisch Verantwortlichen, armutserfahrenen Menschen, Forschenden und weiteren Interessierten diskutieren.