«Die Schweiz macht eine schlechte Familienpolitik»
Die Schweiz ist im internationalen Vergleich in der Familienpolitik ein Schlusslicht. Viel zu tun also für die Eidgenössische Kommission für Familienfragen. Elternzeit, externe Kinderbetreuung sind Themen, für die sich die Kommission starkmacht. Die neue Präsidentin der EKFF, Monika Maire-Hefti, ist davon überzeugt, dass es zuerst jedoch «wirklich noch einen Wandel in der Mentalität der Gesellschaft braucht».
ZESO: Sehr geehrte Frau Maire-Hefti, Sie sind seit letztem Oktober Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen. Wie geht es der Familie in der Schweiz?
Monika Maire-Hefti: Was die Politik angeht, muss ich sagen: Die Schweiz macht eine schlechte Familienpolitik. Sie hinkt der Realität hinterher. Da muss wirklich noch einiges passieren. Wir müssen uns endlich überlegen, wie wir die Familien besser unterstützen können. Ein Drittel der Sozialhilfebezüger sind Kinder. Es kann definitiv niemand sagen, dass wir eine gute Familienpolitik machen. Da ist noch sehr grosser Handlungsbedarf. Armut ist in der Schweiz zwar ein Thema, über das gesprochen wird, aber gerade die Familienarmut ist ein Tabu, über das in der Öffentlichkeit weitgehend Stillschweigen herrscht. Ich meine damit nicht nur diejenigen Familien, die schliesslich auf Sozialhilfe angewiesen sind, sondern auch die, die es gerade noch so schaffen – unter grosser Anstrengung.
Familien waren gerade in der Corona-Krise sehr gefordert. Gibt es in der Folge aus Ihrer Sicht besonderen Handlungsbedarf?
Ich glaube, dass die Corona-Pandemie erhebliche Auswirkungen auf die Familien hatte, und zwar auf alle Familien. Ganz besonders betroffen aber waren die Familien mit niedrigem Einkommen. Es wurde inzwischen eine Reihe von Studien zu den Auswirkungen von Corona auf Familien in Auftrag gegeben. Diese Resultate werden wir jetzt erst mal abwarten.
Die EKFF stellt spezifisches Fachwissen im Bereich Familienpolitik bereit, auf das die Bundesbehörden und weitere Interessierte zurückgreifen können. Welches Thema steht für die EKFF im Moment im Zentrum?
Es sind immer viele Themen im Fokus. Ich glaube die Elternzeit ist jetzt aber wirklich das Thema, das wir angehen müssen. Und das nicht nur innerhalb der EKFF. Wir brauchen eine breite Diskussion darüber in der Gesellschaft. Ich bin sicher, dass die Elternzeit uns in den nächsten zwei bis drei Jahren intensiv beschäftigen wird. Aber es gibt natürlich auch andere Themen, die uns weiterhin wichtig sind und die wir voranbringen wollen. Das betrifft insbesondere die Chancengleichheit. Dazu gehört natürlich auch die frühkindliche Betreuung. Dieses Thema bleibt ganz bestimmt auf dem Tisch.
In der Studie der OECD über die Familienfreundlichkeit in Europa steht die Schweiz als eines der familienunfreundlichsten Länder nach Zypern und Griechenland ganz am Schluss auf Platz 31. Fast alle Länder haben eine Elternzeit. Eltern haben beispielsweise in Deutschland Anspruch auf 14 Monate Elternzeit mit Elterngeld. Estland bietet den Müttern mit 85 Wochen den längsten Mutterschaftsurlaub bei vollem Lohn, gefolgt von Ungarn (72 Wochen) und Bulgarien (65 Wochen). In der Schweiz haben wir (seit 2005) 14 Wochen Urlaub für Mütter und jetzt neu 2 Wochen für Väter. Warum hinkt die Schweiz so hinterher?
Das klassische Modell der Hausfrau, die sich um Kinder und Küche kümmert, ist in der Schweiz vor allem in den Köpfen noch sehr verbreitet. Im Kanton Neuenburg wurde gerade ein Projekt lanciert mit dem Ziel, flächendeckend Tagesschulen zu schaffen. Sie glauben nicht, wie zahlreich die Stimmen sind, die sagen: Das geht doch nicht, Kinder müssen zu Hause Mittag essen. Solange diese Haltung so dominant ist, kommen wir in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur in kleinen Schritten vorwärts. Es ist doch paradox: Die Universitäten sind voller junger Frauen, die gute Ausbildungen absolvieren, und dann, sobald das erste Kind auf die Welt kommt, arbeiten sie nur noch 20 oder 30 Prozent. Es braucht wirklich noch einen Wandel in der Mentalität der Gesellschaft.
«Nur wenn wir Mann und Frau etwa gleich in die Familienarbeit einbinden, bewegen wir uns in Richtung Gleichstellung.»
In der Schweiz können es sich eben viele Familien leisten, von einem Gehalt zu leben …
Natürlich hat es auch mit dem relativen Wohlstand zu tun, der es in der Schweiz vielen Familien ermöglicht, gut über die Runden zu kommen, auch wenn die Frauen nichts oder wenig dazuverdienen. Es gibt kein anderes Land, in dem so viele Mütter weniger als 50 Prozent arbeiten. In den umliegenden Ländern arbeiten die meisten Frauen voll, auch wenn Kinder da sind. Es ist hierzulande auch immer noch mit einem Prestigeverlust verbunden, wenn die Frau arbeiten geht.
Sie wollen auch in der Schweiz eine Elternzeit einführen. Gibt es ein bestimmtes Modell, das Sie bevorzugen?
2010 stellte die EKFF zum ersten Mal ein Modell für eine Elternzeit vor. Vorgesehen war ein 38-Wochen-Modell, inklusive Mutterschaftsurlaub, das heisst 24 Wochen, die sich die Eltern nach dem Mutterschaftsurlaub aufteilen können. 2018 haben wir das Modell leicht angepasst. Denn wir haben aus den Erfahrungen der umliegenden Länder gelernt, dass die Männer die Möglichkeit, Elternzeit zu nehmen, nicht wahrnehmen, ausser eine bestimmte Anzahl Wochen, die bei Nichtbezug verfällt, ist für sie reserviert. Darum haben wir das Modell dahingehend abgeändert, dass für den Mann acht Wochen Elternzeit reserviert sein müssen, die er nicht an die Frau übertragen kann. Inzwischen gehen wir jedoch noch einen Schritt weiter und überlegen, ob wir nicht ein Elternzeitmodell fördern sollten, das noch paritätischer ist. Nur wenn wir Mann und Frau etwa gleich in die Familienarbeit einbinden, bewegen wir uns in Richtung Gleichstellung.
Das Problem ist sicher auch, dass es teurer ist, wenn Väter Elternzeit nehmen, als wenn das Frauen tun.
Ja klar. Das ist so. Die Väter verdienen mehr. Allerdings ist der Erwerbsersatz heute plafoniert bei 196 Franken pro Tag. Das ist den Vätern wohl häufig zu tief. Der Maximalsatz wurde bei der Einführung des zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs auf der Basis der seit 2005 vorhandenen Mutterschaftsentschädigung berechnet, der auf tieferen Frauenlöhnen basiert. Im Militär ist der maximale Tagessatz viel höher.
Der Nationalrat hat im September 2021 das Postulat «Volkswirtschaftliches Gesamtmodell (Kosten-Nutzen) von Elternzeitmodellen» überwiesen. Mit der Studie sollen nun vertiefte Kenntnisse über die Kosten-Nutzen-Analysen unterschiedlicher Elternurlaubsmodelle gewonnen werden. Glauben Sie, dass der Elternurlaub jetzt bald realisiert wird?
Da habe ich ehrlich gesagt meine Zweifel. Das Postulat entstand, als die Motion zur Einführung einer Elternzeit von insgesamt 2× 14 Wochen, inklusive Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub, von GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy 2019 bereits in der vorberatenden Kommission scheiterte. Ich vermute also, dass zwar vielen Politikerinnen und Politikern dämmert, dass es langsam Zeit wäre für eine umfassende Elternzeit, aber eigentlich will man sie – noch – nicht. Ich sehe im Postulat zur Kosten-Nutzen-Analyse eine reine Verzögerungstaktik. Die EKFF hat 2017 bereits versucht, eine solche Analyse zu realisieren. Aber es ist enorm schwierig, ein klares Ergebnis zu erzielen, da sehr viele Annahmen getroffen werden müssen und viele der positiven Auswirkungen nicht in Franken und Rappen ausgedrückt werden können.
Wann, glauben Sie, wird es dennoch so weit sein?
In zehn Jahren vielleicht (lacht). Aber immerhin besteht jetzt die Hoffnung, dass wir ganz konkret und breit in der Gesellschaft über eine Elternzeit diskutieren. Und es gibt zum Glück immer mehr Unternehmen, die ihren Angestellten freiwillig Angebote in diese Richtung machen, weil sie attraktive Arbeitgeber sein möchten.
In allen Ländern inklusive der Schweiz gleich ist hingegen, dass Männer selten beruflich zurückstecken und sich Eltern Berufs- und Familienarbeit teilen bzw. der Mann zugunsten der Berufstätigkeit der Frau zurücksteckt.
Das sehe ich nicht ganz so. Vor allem in den skandinavischen Ländern ist die Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Eltern bereits selbstverständlich. Das klassische Rollenmodell hält sich in der Schweiz einfach hartnäckiger. Bei uns wurde die Politik früher in grossen Teilen von bürgerlichen Männern gestaltet. Diese hatten kaum Interesse, einen Teil ihrer Zeit ohne Einkommen zu Hause mit der anspruchsvollen Betreuung ihrer Kinder zu verbringen und sich eine Doppelbelastung aufzuerlegen. Zudem waren früher die Frauen aufgrund der klassischen Rollenverteilung auch viel schlechter ausgebildet. Das alles ist heute völlig anders.
Eine weitere Forderung der EKFF ist die Verbesserung des Angebots an externer Kinderbetreuung und des Zugangs dazu. Es gibt Studien, die klar zeigen, dass diese Investitionen wirtschaftlich sind.
Ganz klar. Es gibt viele Studien, die das zeigen. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von guten und bezahlbaren Betreuungsplätzen und den Stellenprozenten, die Frauen beruflich arbeiten. Je einfacher es ist, einen solchen Betreuungsplatz zu finden, umso höher ist der Anstellungsgrad der Frauen. Vor Kurzem ist im Kanton Neuenburg eine Studie zu genau diesem Thema publiziert worden, und auch sie kommt zu diesem Ergebnis.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist auch eine Forderung der Armutsprävention. Gerade Alleinerziehende, mehrheitlich Mütter, sind darauf angewiesen, über bezahlbare Betreuungsplätze zu verfügen.
Genau, aber auch für Familien mit Migrationshintergrund ist es wichtig, dass sie die Angebote auch nutzen können. Sie benötigen dafür aber Unterstützung, damit sie die Anträge auf Subvention für einen Betreuungsplatz stellen können. Das ist für viele Betroffene enorm schwierig, aus sprachlichen Gründen und weil die Komplexität der Anträge und Verfahren hoch ist. Natürlich spielen auch kulturelle Fragen eine Rolle. Aber hier sind wir eigentlich gut unterwegs. In vielen Kantonen laufen Pilotprojekte, auch zur Sprachförderung der Kinder. Es ist breit anerkannt, dass es mehr bezahlbare Betreuungsplätze braucht und dass die Qualität stimmen muss.
Was halten Sie von Familienergänzungsleistungen, wie sie der Kanton Waadt kennt?
Im Kanton Waadt sind die Erfahrungen mit den Familienergänzungsleistungen (FamEL)sehr positiv. Die Situation von Familien an der Armutsschwelle hat sich stark verbessert. Aber natürlich sind die FamEl ein Kostenpunkt, weshalb sich die meisten Kantone damit schwertun. Ich denke aber, es ist ein bisschen kurzsichtig, die FamEl nur als Kostenpunkt zu beurteilen. Wenn es den Familien besser geht, entsteht oft eine Art Dominoeffekt, der zur Verbesserung der Situation der Familien auf vielen Ebenen führt.
2020 war die Kinderquote mit 1,46 pro Frau so tief wie nie. Ist das auch eine Folge einer schlechten Familienpolitik?
Ja. Auch. Aber es gibt weitere Gründe dafür: Das Wachstum der globalen Bevölkerung und die Klimakrise beunruhigen viele Menschen in der Schweiz. Wir überlegen uns heutzutage genau, ob und wann wir ein Kind wollen. Dann hat es auch mit unserem Wohlstand zu tun. Es ist ein Thema, das sehr weitläufig ist. Da kann man nicht einfach sagen, es liegt nur an einer ungenügenden Familienpolitik.
Es gibt immer mehr Familienformen, die nicht der traditionellen Kernfamilie entsprechen. Gerade in juristischer Hinsicht passen diese Familienformen nicht immer in die vorhandenen Raster. Auch die Sozialhilfe stützt sich bei der Bemessung der Ansprüche auf die Kernfamilie ab. Sobald andere Familienformen vorhanden sind, wird es sehr kompliziert. Müsste man das Familienrecht nicht modernisieren?
Ja. Das Familienrecht ist nicht mehr in allen Bereichen à jour. Der Wandel der Gesellschaft mit den verschiedenen Familienformen ist auch für unsere Kommission ein grosses Thema. Es werden im Recht der sozialen Sicherheit zahlreiche dieser Konstellationen nicht angemessen berücksichtigt, sodass es zu Ungleichbehandlungen und Benachteiligungen bestimmter Familienformen kommen kann. Oft sind es gerade Frauen und Kinder, die aufgrund solcher Unzulänglichkeiten in prekäre Situationen gelangen. Die Existenzsicherung muss so ausgestaltet sein, dass verschiedene Familienformen als gleichwertig gelten und eine angemessene Existenzsicherung für alle sichergestellt ist. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, bedarf es Anpassungen in verschiedenen Bereichen des Sozialstaats.
Familien sind manchmal auch ein Schauplatz für Gewalt. Auch in der Schweiz ist häusliche Gewalt ein weitverbreitetes soziales Problem. Ist das ein Zeichen für einen hohen Stresspegel, dem Familien ausgesetzt sind?
Es ist schwer zu beurteilen, was genau der Grund ist. Da gibt es viele verschiedene. Das Thema ist nun ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Denn das Phänomen der häuslichen Gewalt ist stark präsent – und zwar in allen Milieus, allerdings mit einem überproportionalen Anteil an Täterinnen und Tätern mit Migrationshintergrund. 2020 wurden 20 123 Straftaten im Bereich häusliche Gewalt registriert, darunter 89 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte. Gegen 40 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten sind dem häuslichen Bereich zuzuordnen. Bei einigen Gewaltdelikten ist dieser Anteil über die Jahre deutlich angestiegen, bei den vollendeten Tötungsdelikten ganz erheblich, aber auch bei Vergewaltigungen. Frauen stellen 72 Prozent aller Gewaltopfer dar.
Monika Maire-Hefti
Die gebürtige Zürcherin gehörte 2013 bis 2021 der Regierung des Kantons Neuenburg an. Sie leitete das Departement für Bildung und Familie. 2015/16 war sie Regierungspräsidentin. 2017 wurde sie wiedergewählt und war 2020/21 erneut Regierungspräsidentin. Seit Oktober 2021 ist Monika Maire-Hefti Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen. Sie ist zudem Mitglied des Präsidiums von Caritas Schweiz.
Was ist dagegen zu tun?
Präventions- und Aufklärungsarbeit sowie Beratungsstellen- und Schutzeinrichtungen für Betroffene, also Täter und Opfer, sind wichtig. Es sind praktisch in allen Kantonen dank finanzieller Unterstützung des Bundes Sensibilisierungsprojekte entstanden. Neben den kantonalen Stellen sind dies das Eidgenössische Büro für Gleichstellung von Frau und Mann (EGB), die Schweizerische Konferenz gegen häusliche Gewalt, Kinderschutz- und Kinderrechtsorganisationen, die Pro Juventute mit der Beratungsnummer 147, Männer- und Männerrechtsorganisationen, Opferberatungsstellen sowie die ausserparlamentarischen Kommissionen für Frauen, für Familien und für Kinder- und Jugendliche. Häusliche Gewalt ist keine Privatangelegenheit. Gewalt und Bedrohung in familiären und partnerschaftlichen Beziehungen müssen geahndet werden. Den Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Landes muss klar sein, was unser kulturelles Verständnis und die Definition von Gewalt ist. Patriarchale Vorstellungen und kulturelle Praxen anderer Länder haben keinen Platz.
EidgenössiSche Kommission für Familienfragen
Die EKFF ist eine ausserparlamentarische Kommission, die sich für familienfreundliche Rahmenbedingungen einsetzt. Die EKFF stellt spezifisches Fachwissen im Bereich Familienpolitik bereit, auf das die Bundesbehörden und weitere Interessierte zurückgreifen können. Der Kommission gehören 15 Mitglieder aus familienpolitischen Organisationen, Instituten der Familienforschung und Fachleute aus dem Sozial-, Rechts- und Gesundheitsbereich an.
Die Kommission orientiert und sensibilisiert die Öffentlichkeit in Bezug auf die familialen Lebensbedingungen in der Schweiz. Die EKFF nimmt zu familienpolitischen Vorlagen Stellung und sorgt für den fachlichen Austausch zwischen öffentlicher Verwaltung und den verschiedenen familienpolitisch tätigen Organisationen. Weiter zeigt die Kommission Forschungslücken auf, evaluiert und verfasst Forschungsberichte. Aus deren Ergebnissen entwickelt sie familienpolitische Perspektiven und regt zu entsprechenden Umsetzungsmassnahmen an.