Vererbung der Armut – Schicksal?
Die Artias hat ein Dossier zum Thema Kinder in Armut publiziert. Das Dossier macht die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen sichtbar, die von Armut betroffen sind, und gibt Empfehlungen an die kantonalen Sozialhilfebehörden und die SKOS ab. Diese sollen Schritte einleiten, damit die Rechte der Kinder gesichert werden und diese nicht mehr automatisch das Schicksal der Eltern übernehmen und die Armut von einer Generation an die nächste weitergeben.
«Vererbte Armut: ein unabwendbares Schicksal? Kindern in der Sozialhilfe einen Platz geben.» So lautet der Titel des Dossiers des Monats, das Artias im März veröffentlichte. Unter jenen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, befinden sich viele Familien. Allein erziehen, also die blosse Tatsache, Kinder zu haben, erhöht das Armutsrisiko. Deshalb machen Kinder ein Drittel der Sozialhilfeempfänger aus; sie sind die demografische Gruppe, die am häufigsten von der Sozialhilfe unterstützt wird. Während Kinder bei der Bemessung der wirtschaftlichen Unterstützung durchaus berücksichtigt werden, gibt es hingegen kaum Überlegungen, wie der Alltag dieser Kinder aussieht, die in Familien aufwachsen, die manchmal über viele Jahre hinweg Sozialhilfe beziehen. So haben die erwachsenen Kinder ein hohes Risiko, ebenfalls ein prekäres Leben zu führen und die Armut von einer Generation an die nächste weiterzugeben.
Der Alltag von Kindern in Armut, ihre Forderungen, Wünsche und Träume bilden den Kern einer vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten partizipativen Forschung, die von Professorin Sylvia Garcia Delahaye und ihrem Team geleitet wird. Zusammen mit jungen Co-Forscherinnen und Co-Forschern, die selbst von Armut betroffen sind, hat das Forschungsteam Kinder gebeten, ihre Situation zu schildern und in Bildern darzustellen. Die gesammelten Aussagen zeigten anschaulich, wie die Kinder ihre familiäre Situation erleben, insbesondere Armut, Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder auch Nichtinanspruchnahme von Leistungen. Verschiedene Zielgruppen wurden schliesslich mit den Aussagen von Kindern konfrontiert. Die Autorinnen holten Reaktionen und Überlegungen von Sozialarbeitenden und Fachleuten der Sozialhilfe dazu ein.
«(...) Das Risiko ist, dass (die Jugendlichen) aufgeben, weil sie nicht nur den Haushalt machen und kochen, sondern auch das ganze Geld ihrer Arbeit von der Sozialhilfe abgezogen wird, das ist ein Gefühl der Ungerechtigkeit als Jugendlicher, und es sagt (viel über die ‹Logik›) der Sozialhilfe aus.»
In einem zweiten Schritt werden im Dossier die Menschen- und Grundrechtsverpflichtungen der Schweiz dem Sozialhilferecht bzw. den SKOS-Richtlinien gegenübergestellt. Wiederholt stellen die Autorinnen fest, dass das Recht der Realität von Kindern widerspricht. Die Kinderrechtskonvention proklamiert das Recht der Kinder auf Gesundheit, Schutz vor Misshandlung sowie das Recht auf Bildung und Förderung, Freizeit, Erholung und Spiel, ein sicheres Zuhause und das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft. «Diese Rechte werden bei Kindern, die von Armut betroffen sind, wiederholt verletzt. Da sie von Erwachsenen abhängig sind, die selbst arm und verletzlich sind, haben sie ein höheres Risiko, an Krankheiten zu erkranken und in ihrer Entwicklung eingeschränkt zu werden», schreibt Caritas Schweiz 2012.
Am Schluss werden Empfehlungen vorgestellt, wie die Rechte von Kindern in der Sozialhilfe und generell in der Sozialarbeit sowie in der Familien-, Kinder- und Jugendpolitik besser berücksichtigt werden können. Die Empfehlungen orientieren sich an den drei vom Bundesrat definierten Säulen der Kinder- und Jugendpolitik: Schutz, Förderung, Partizipation.
1. Schutz
- Systematische Berücksichtigung des Kindeswohls während der Dauer der sozialen Betreuung und bei der Entscheidungsfindung, insbesondere bei Themen wie Erwerbstätigkeit bzw. Eingliederung der Eltern, Ausbildung der Kinder, Unterbringung der Familie und Verhängung von Sanktionen.
- Verankerung der Kinder in der institutionellen Politik der Sozialhilfe sowie im Pflichtenheft der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, um sie sichtbar zu machen und eine reale und angemessene Arbeitszeit für die effektive Betreuung der Kinder zu gewährleisten. Ausbildung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie der Fachkräfte der Sozialhilfe in dieser Begleitung.
- Förderung von Gesetzesrevisionen, die einerseits auf eine Erhöhung der Leistungen abzielen, um die Bedürfnisse von Familien zu decken, die mittel- oder langfristig auf die Betreuung angewiesen sind. Andererseits gilt es, die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen, einschliesslich derjenigen, die mit Sozialdiensten in Verbindung stehen, zu fördern.
- Angemessene Schulungen für Sozialarbeiter/innen zu Kinderrechten. Diese Schulungen vermitteln den Praktikern das nötige Wissen, um die Rechte des Kindes zu verstehen und durchzusetzen.
- Einrichtung wirksamer Monitoringsysteme zur Bewertung der Auswirkungen von Massnahmen auf die Verringerung der Kinderarmut. Diese Systeme müssen eine genaue Datenerhebung gewährleisten und dabei auch die Erfahrungen der Kinder berücksichtigen, um eine kontinuierliche Bewertung der Politiken und Programme zu ermöglichen.
«(...) Ich stelle mir wirklich Jugendliche vor, die isoliert sind, es nicht schaffen aus ihrem System herauszukommen in die Bildung. Man braucht jemanden, der ihnen sagt, dass es das gibt und dass er/sie da ist und dass sie diese Chance haben.»
2. Förderung
- Situationsbedingte Leistungen (SIL) zur Förderung der kindlichen Entwicklung (Art. 11 BV) werden in SIL zur Deckung des Grundbedarfs umgewandelt, damit sie von Rechts wegen Kindern gewährt werden können.
- Einführung eines höheren Freibetrags für das Einkommen von Auszubildenden, damit das verdiente Geld nicht nur dazu dient, das Existenzminimum der Familie zu decken.
- Förderung von qualifizierenden und den Wünschen und Fähigkeiten entsprechenden Ausbildungen von Kindern und Jugendlichen, die in armutsbetroffenen Familien aufwachsen, durch ein Stipendiensystem. Schaffung bzw. Ausbau von Einrichtungen, die ihnen den Zugang zu solchen Ausbildungen ermöglichen.
«(Man sollte) manchmal grundlegende Fragen stellen, für die niemand mehr Zeit hat. Es ist klar, dass die Sozialarbeiter ... zwischen den Akten, und das sind viele! Also das Kind zu sehen, ist nicht immer möglich, (auch wenn sie manchmal) die Eltern begleiten.»
3. Partizipation
- Entwicklung von geeigneten, nicht konfrontativen Räumen und Instrumenten für das Zuhören, Sammeln und Anerkennen der Aussagen von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Sozialhilfedienste unter Berücksichtigung der bestehenden Asymmetrie mit Erwachsenen.
- Einrichtung eines Systems zur Bewertung, ob die Ansichten von Kindern in der Politik, in Programmen und bei wichtigen Entscheidungen, die sie betreffen, tatsächlich berücksichtigt werden.
Studie: Sylvia Garcia Delahaye, Caroline Dubath, Elena Patrizi, Paola Stanić: La pauvreté en héritage? Donner une place aux enfants à l’aide sociale
Artias, Dossier des Monats, März 2024: artias.ch/artias_dossier/la-pauvrete-en-heritage-une-fatalite-donner-une-place-aux-enfants-a-laide-sociale/