Debatte

Sozialhilfe am Wendepunkt

05.06.2023
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Die Sozialhilfe war lange Zeit das ungeliebte Kind der schweizerischen Sozialpolitik. Vor dem Hintergrund steigender Kosten und steigender Fallzahlen überboten sich vor allem rechts stehende Parteien mit immer radikaleren Forderungen, um die Leistungen der Sozialhilfe zu kürzen. Dabei stand vor allem die Höhe des Grundbedarfs im Fokus, obschon dieser sehr tief ist und schon heute nur ca. 60 Prozent des Grundbedarfs bei den Ergänzungsleistungen ausmacht. Die Angriffe auf die Sozialhilfe hatten ihren Höhepunkt in der Volksabstimmung im Kanton Bern im Mai 2019. Das Berner Stimmvolk lehnte damals eine Kürzung der Grundbedarfsleistungen um bis zu 30 Prozent ab. Ähnliche Forderungen in anderen Kantonen wurden nach dem Berner Entscheid nicht mehr weiterverfolgt oder deutlich abgeschwächt. Seither hat sich die Stimmung gewandelt. Das zeigt sich etwa daran, dass die Anpassung des Grundbedarfs an die Teuerung per 1.1.2023 in den meisten Kantonen ohne grösseren politischen Widerstand umgesetzt wurde und dass kaum mehr neue Vorstösse zur Kürzung der Sozialhilfeleistungen lanciert werden. Was hat zu diesem Stimmungsumschwung geführt?

Corona zeigt die Grenzen des Sozialstaats auf

Während der Corona-Pandemie standen plötzlich viele Personen in der Schweiz ohne Arbeit und ohne Verdienst da. Vor allem Selbstständigerwerbende, Temporärangestellte und weitere Personen in prekären Verhältnissen gerieten in existenzielle Not. Die Bilder von langen Schlangen vor den Abgabestellen von Nahrungsmittelpaketen erschreckten Politik und Bevölkerung und zeigten auf, dass das soziale Netz in der Schweiz Löcher hat. Corona hat das öffentliche Bewusstsein verändert: Die Akzeptanz gegenüber den sozialen Sicherungssystemen ist in dieser Zeit rasch und nachhaltig gewachsen. Obschon die Sozialdienste schon seit Langem darauf hingewiesen haben, dass Armut potenziell jeden und jede treffen kann, führte erst die Pandemie dazu, dass dies auch von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Die Leistungen der Sozialhilfe werden deshalb heute positiver beurteilt als noch vor der Corona-Krise.

Inflation und steigende Mieten führen zu neuer Armut

Verschiedene Entwicklungen der letzten Monate haben dazu geführt, dass sich die wirtschaftliche Situation von vielen Personen in der Schweiz verschlechtert. Vor allem die Inflation, rasch steigende Krankenkassenprämien und die sich zuspitzende Situation auf dem Wohnungsmarkt stellen Haushalte in bescheidenen finanziellen Verhältnissen zunehmend vor existenzielle Probleme. Davon betroffen sind nicht nur die sozial Schwächsten, sondern auch Haushalte bis in den Mittelstand. Armutsgefährdet sind auch Personen, die heute noch nicht auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sind. Auch ein Durchschnittseinkommen reicht heute oft nicht mehr aus, um eine angemessene Wohnung zu finden und zu bezahlen. Vor allem Familien laufen deshalb Gefahr, in wirtschaftliche Not zu geraten. Diese Entwicklung steht erst am Anfang, weil der für die Mieten massgebliche Referenzzinssatz noch gar nicht erhöht worden ist und die Mieten erst in den kommenden Monaten deutlich ansteigen werden. Lösungen sind nicht in Sicht: Staatliche Massnahmen zur Förderung des preisgünstigen Wohnungsbaus und zum Ausgleich steigender Mieten gibt es kaum, weshalb in Zukunft vermutlich vermehrt die Sozialhilfe jene unterstützen muss, die wegen der steigenden Wohnkosten ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst bestreiten können. Hinzu kommt vor allem für Personen in prekären Verhältnissen das wachsende Risiko, obdachlos zu werden.

Verbesserte Arbeitsmarktlage eröffnet neue Chancen

Im Arbeitsmarkt gibt es nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern auch eine steigende Nachfrage nach weniger qualifizierten Mitarbeitenden. Dadurch verbessern sich die Aussichten von Personen in der Sozialhilfe auf eine Integration in den Arbeitsmarkt, die Ablösung von unterstützten Personen wird einfacher. Die verbesserte Arbeitsmarktlage führt zudem zu einer sinkenden Zahl von Neueintritten in die Sozialhilfe. Auch ältere Personen, die noch vor einigen Jahren nach der Aussteuerung von der Sozialhilfe unterstützt werden mussten, finden heute öfter wieder eine Stelle. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt garantiert aber nicht, dass alle arbeitenden Personen für sich und ihre Familien ein existenzsicherndes Einkommen erzielen. Tendenziell dürfte in den nächsten Monaten der Anteil von Working Poor sogar zunehmen, weil viele beruflich wenig qualifizierte Personen zwar eine Stelle finden, zur Sicherung des Existenzminimums für ihre Familie aber auf ergänzende Sozialhilfeleistungen angewiesen bleiben.

Steigender Anteil von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen

Die Fallzahlen in der Sozialhilfe stagnieren oder sinken sogar. Dennoch gibt es eine beunruhigende Entwicklung: Der Anteil von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen wächst. Diese Tendenz dürfte sich in den nächsten Jahren noch weiter fortsetzen, einerseits wegen der grossen Zahl von Asylsuchenden in den letzten Jahren und andererseits wegen der nach wie vor tiefen Erwerbsquote dieser Personen. Obschon sich die hohe Sozialhilfequote mit sprachlichen Defiziten, fehlenden beruflichen Qualifikationen und grossen Familiensystemen oft erklären lässt, führt diese Entwicklung sowohl für die Sozialhilfe wie auch für die betroffenen Personen zu Problemen. Wenn es der Sozialhilfe nicht gelingt, diesen Trend zu brechen, wird sie in der öffentlichen Wahrnehmung vermehrt als Anschlusssystem für den Asylbereich wahrgenommen, wobei insbesondere die hohe Nichterwerbsquote einzelner Nationalitäten politische Angriffsflächen bietet.

Sozialhilfe am Wendepunkt

Vieles deutet darauf hin, dass sich die soziale Spirale zu drehen beginnt – nach unten. Zugleich gibt es Anzeichen dafür, dass sich die Sozialhilfe heute an einem Wendepunkt befindet. Die Angriffe auf die Sozialhilfe sind seit der Abstimmung im Kanton Bern im Jahr 2019 zurückgegangen. Es kommen aber neue fachliche und politische Herausforderungen auf die Sozialhilfe zu. Vor allem steigende Krankenkassenprämien und die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt werden in den nächsten Monaten zu neuen sozialpolitischen Problemen führen. Anders als bei der Corona-Krise, der Ukrainekrise oder der CS-Krise ist nicht damit zu rechnen, dass der Staat rasch und wirksam auf diese neuen sozialen Herausforderungen reagieren wird. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Zahl der unterstützten Personen in der Sozialhilfe trotz einer tiefen Arbeitslosigkeit mittelfristig ansteigt, mit entsprechenden Kostenfolgen. Das könnte zu einer neuen Welle der Kritik an der Sozialhilfe führen.

Die Sozialhilfe selbst steht ebenfalls vor grossen Herausforderungen, weil auch sie vom Fachkräftemangel betroffen ist. Was ist zu tun? Die Sozialhilfe muss dafür sorgen, dass sie auf neue Problemlagen fachlich fundiert und rasch reagieren kann, beispielsweise durch eine rasche Anpassung der Mietzinsrichtlinien angesichts rasch steigender Mieten. Wegen des Fachkräftemangels muss sich die Sozialhilfe auch intensiv mit Fragen der eigenen Effizienz und der weiteren Digitalisierung befassen. Wichtig ist aber auch eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit.

Die Sozialhilfe muss noch verstärkt aufzeigen, dass es rasche und wirksame Massnahmen auf der politischen Ebene braucht, um steigende Krankenkassenprämien und die Verknappung und Verteuerung des Wohnraums zu bekämpfen, dass diese sozialen Probleme keine Einzelschicksale sind, sondern die Folgen von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Ein Staat, der innert Stunden Milliarden für die Rettung einer einzigen Bank bereitstellen kann, muss auch in der Lage sein, dafür zu sorgen, dass alle Personen in diesem Land angemessen wohnen, ihre Krankenkassenprämie bezahlen und ihren Lebensunterhalt finanzieren können.

Felix Wolffers
Co-Präsident SKOS (2014–2019)