Persönliche Hilfe – werden wir ihr gerecht?
Die Sozialhilfe hat heute nicht nur eine menschenwürdige Existenz zu sichern, sondern muss auch dem Ziel gerecht werden, die soziale und berufliche Integration Betroffener zu fördern. Quasi als Bindeglied wirkt dabei die persönliche Hilfe. Betroffene erhalten im Rahmen von Sozialhilfe fachlichen Beistand, damit der erstellte Hilfsplan umgesetzt und die darin definierten, individuellen Ziele erreicht werden können.
Auftrag, Ziel und grundsätzliche Herangehensweise scheinen unbestritten. Wer Gesetze und Verordnungen konsultiert, wird die nötigen Bestimmungen dazu alle antreffen. Zu Diskussionen führt vielmehr, mit welchen Methoden der Auftrag zu erfüllen ist und wie viel Geld bzw. wie viele Personalressourcen dafür verwendet werden dürfen. Welche Integrationsstrategien sind erfolgreich? Braucht es in jeder Hinsicht Fachpersonen aus den Berufsfeldern der Sozialen Arbeit für eine erfolgreiche Begleitung? Oder geht es auch mit Administrativpersonal oder gar mit Freiwilligen?
Neben der notorischen Ressourcendiskussion geht es auch um die Interpretation des Prinzips Leistung und Gegenleistung. Welche Pflichten – und in welcher Qualität – haben Sozialhilfebeziehende zu erfüllen? Mit welchen Mitteln werden sie dazu gebracht, den Vorgaben nachzukommen? Allzu oft basieren die abgegebenen Voten auf einem negativen Bild von Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nur eine Minderheit scheint davon überzeugt zu sein, dass Betroffene intrinsisch bereit sind, an einer Verbesserung ihrer Situation zu arbeiten. Sozialhilfeabhängigkeit löst eher Skepsis aus, und sofort ist der Verdacht spürbar, dass vor allem eigenes Versagen, mangelnde Disziplin oder Vorteilsnahme und Missbrauch im Spiel sind. Die politische Antwort auf diese – mitunter auch bewusst gepflegten – Bilder ist seit einiger Zeit: Aufbau von Druck, damit die Betroffenen wieder «in die Gänge» kommen. Die Früchte dieser Entwicklung zeigen sich daran, dass Sozialhilfebeziehende inzwischen mit immer weniger Geld auskommen müssen und gleichzeitig mannigfaltigen Auflagen, Weisungen und Mitwirkungspflichten gerecht werden sollen. Dem entspricht auch, dass das Stellen eines Gesuchs auf Sozialhilfe komplexer geworden ist und dass auf den Sozialämtern viele Ressourcen auf Kontrollhandlungen aller Art verwendet werden.
Es soll hier nicht infrage gestellt werden, dass der Bezug von Sozialhilfe an klare Voraussetzungen gebunden und an Pflichten geknüpft sein soll, deren Einhaltung auch angemessen kontrolliert wird. Denn jedes System kann missbraucht werden und erscheint ohne Sicherungsinstrumente nicht vertrauenswürdig. Die Frage ist aber, ob es uns unter den aktuellen Vorzeichen überhaupt noch gelingt, persönliche Hilfe zu leisten. Wenn Kontrolle, Ermahnung, Auflagen, (Zu-)Weisung, Sanktion, Aktenführung usw. Sozialarbeitende auslasten, wo können sie dann noch den verlangten fachlichen Beistand leisten? Und eine weitere Frage sei erlaubt: Wenn ein gewichtiger Teil meiner Handlungen auf Kontrolle und Vorgeben ausgerichtet ist, wo bleibt Platz und Haltung für Förderung? Wo ist Zeit und Anreiz, um das Gegenüber zu fragen, welchen Weg es für richtig hält und zu gehen motiviert ist?
Mehr Raum für persönliche Hilfe in den Richtlinien
Aus fachlicher Sicht ist das aktuell ungünstige Verhältnis zwischen hoher Kontrolle und wenig Ressourcen für eine förderliche Auseinandersetzung mit den Hilfe suchenden Menschen längst bekannt. Mittlerweile zeigen auch Studien, dass eine gute persönliche Hilfe, also eine individualisierte Beratung, Betreuung und Begleitung, ein gewichtiger Erfolgsfaktor ist, um Menschen nachhaltig zu integrieren. Entsprechend wurde die Revision der SKOS-Richtlinien auch dazu genutzt, die persönliche Hilfe als gleichberechtigt und eigenständig zur wirtschaftlichen Hilfe darzustellen. Sie soll zukünftig noch mehr Raum in den Richtlinien einnehmen und mit mehr Erläuterungen sowie Praxishilfen verknüpft werden. Dabei ist die Botschaft klar: Nur wer durch persönliche Hilfe gefördert wird, von dem kann auch gefordert werden. Allerdings wird die Botschaft in der nötigen Breite nur verstanden und als richtig erkannt, wenn fruchtbarer Boden dafür geschaffen wird. Dazu muss der Blick von Gesellschaft und Politik auf die Sozialhilfe in zweierlei Hinsicht verändert werden:
Erstens ist fachlich untermauert immer wieder aufzuzeigen, wo die wahren Gründe für eine Sozialhilfeabhängigkeit liegen. Viele assoziieren Armut mit wirtschaftlicher Schwäche, also einer Unterversorgung mit Geld. Die Forschung hat längst aufgezeigt, dass das Fehlen finanzieller Mittel für den Lebensunterhalt nicht Ursache von Armut, sondern meist die Folge einer Unterversorgung in anderen, zentralen Lebensbereichen ist. Tatsächlich sind gesundheitliche Probleme, erlebte Traumata, tiefer Bildungsstand, fehlende Schlüsselkompetenzen, Kinder haben und betreuen, Isolation oder mangelhafte Wohnversorgung die wahren Gründe für Armut. Mit Druck und scharfen Vorgaben gegenüber Sozialhilfebeziehenden in einem solchen Kontext ist offensichtlich wenig zu erreichen, denn sie können ihre Lage aus eigener Kraft schlicht nicht beheben. Sie brauchen professionelle Hilfestellung, um einen Ausweg zu finden.
Sozialhilfe als Entwicklungssystem
Zum Zweiten gilt es, die Sozialhilfe nicht nur als Sicherungs-, sondern auch als Entwicklungssystem gleich einer Bildungsanstalt zu etablieren. Anknüpfend an die oben ausgeführten Ursachen müssen Betroffene Gelegenheit und Instrumente erhalten, um ihre Ressourcen entfalten zu können. Sie müssen sich rüsten und Lücken schliessen dürfen, damit ihnen ein selbstständiges, unabhängiges Leben gelingt. Das primäre Sicherstellen einer menschenwürdigen Existenz stellt dabei die Grundvoraussetzung dar. Nur wer zuverlässig und ausreichend versorgt ist, kann Entwicklungsschritte überhaupt tun. Dabei sei bemerkt, dass eine ständige Verknappung der Mittel für die allgemeine Lebenshaltung eher kontraproduktiv wirkt bzw. Betroffene entkräftet und demotiviert.
Nicht Defizite, sondern Chancen ins Zentrum rücken
Soll die Sozialhilfe als Entwicklungssystem funktionieren, wird zudem ein etwas anderer Fokus benötigt: Im Zentrum sollen nicht die Defizite stehen, sondern die Chancen der Hilfe suchenden Person. So betrachtet darf bei Hilfesuchenden nicht nur die aktuelle Lebenssituation erfasst werden, sondern es muss gleichermassen eine umfassende Potenzialabklärung erfolgen, die interdisziplinär erstellt wird. Sie bildet die Grundlage für eine «Investitionsplanung» und gibt Auskunft zu deren Erfolgsfaktoren. Sie zeigt beispielsweise auf, ob eine Ausbildung nachgeholt werden soll oder eher eine niederschwellige Qualifizierung angezeigt oder zuerst die Wohnsituation anzugehen ist. Das Instrument der situationsbedingten Leistungen ermöglicht hier an sich den nötigen rechtlichen Bewegungsspielraum. Mit dem Bemühen, die Sozialhilfe auch als Entwicklungssystem zu etablieren, muss aber ein Akzeptieren einhergehen, dass eine gewisse Gruppe Sozialhilfebeziehender sich von der Sozialhilfe nicht wird lösen können. Ihnen sind alternative Perspektiven zu ermöglichen, die entkoppelt von üblichen Leistungsgedanken Anerkennung geniessen und ebenso als sinnvolle Investition gelten.
Gelingt eine Veränderung des Blickes auf die Sozialhilfe, wird auch verstanden, dass die Arbeit mit dem Menschen wieder mehr Raum und Ressourcen braucht. Nur so kann die persönliche Hilfe ihren Auftrag erfüllen und motivierende Rahmenbedingungen schaffen, damit Hilfesuchende letztlich zu Leiterinnen und Leitern ihres Integrationsprojektes werden. Im besten Falle setzt sie sogar ein, wenn es (noch) keine wirtschaftliche Sozialhilfe braucht. So paradox es tönt, die Corona-Pandemie könnte beim Vermitteln der genannten Zusammenhänge eine Chance sein. Sie zeigt eindrücklich, wie dünn die Schutzschicht vor Armut tatsächlich ist, wie sehr strukturelle Rahmenbedingungen eine Rolle spielen und dass Armut eine mehrdimensionale Unterversorgung bedeutet. Nutzen wir die Gelegenheit und drehen den Lautsprecher, der permanent nach erhöhtem Druck und noch mehr Kontrolle ruft, mutig etwas leiser.