«Klimaschutz ist auch eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten»
Der Klimawandel ist für uns alle mittlerweile spürbar geworden. Wetterextremereignisse treten häufiger auf und verursachen auch hier grosse Schäden. Der weltbekannte Berner Klimaforscher Thomas Stocker hat viel zur Erforschung des Klimawandels beigetragen. Zurzeit ist er in der Antarktis auf der Suche nach Eisbohrkernen, die 1,5 Millionen Jahre Klimageschichte erzählen sollen. Der Klimaforscher befasst sich aber auch mit den sozialen Folgen des Klimawandels und wurde deshalb mit dem Prix Caritas ausgezeichnet.
ZESO: Sehr geehrter Herr Stocker, extreme Wetterereignisse haben in allen Regionen der Welt zugenommen, auch hier bei uns. Davon zeugten diesen Sommer die sintflutartigen Regenfälle wie auch die Waldbrände im Süden Europas. Können Sie mit Sicherheit sagen, dass das eine Folge des Klimawandels ist, wie der sechste Bericht des Weltklimarates IPCC darlegt?
THOMAS: STOCKER: Am 9. August 2021 kam der sechste Sachstandsbericht des IPCC heraus. Der erste Bericht des internationalen Forscherrats zum Klimawandel erschien 1990. Der Auftrag lautete damals, das Wissen über den Klimawandel zusammenzutragen und zu beschreiben, was er für die Zukunft bedeutet. Dieser Auftrag hat sich in den letzten 30 Jahren nicht geändert. Geändert hat sich in den letzten drei Jahrzehnten hingegen das Klima. Es hat sich weiter erhitzt. Die Folgen der Klimaerwärmung – vermehrt auftretende Extremereignisse wie extreme Hitzeperioden und Niederschläge – wurden schon früh in den Berichten in Aussicht gestellt. Sie sind längst eingetreten. Da gibt es in der Wissenschaft keinen Zweifel mehr. Was wir im vergangenen Sommer erlebt haben, entspricht den Voraussagen der Forschung, was passiert, wenn man keinen Klimaschutz betreibt.
Es besteht also absolut kein Zweifel mehr, dass diese Ereignisse auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen sind?
Aufgrund neuer Forschungsergebnisse haben wir heute neu die Möglichkeit, zu erkennen, wie wahrscheinlich Extremereignisse wie beispielsweise die Hitzebrände in Nordamerika oder die Hitzewellen in Russland und anderen Gebieten ohne die Klimaerhitzung gewesen wären und welchen Beitrag der Mensch zur Verschärfung der Situation geleistet hat. Wir können heute klar sagen, dass die Klimaentwicklung der letzten 50 Jahre eindeutig auf die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas und die dadurch ansteigende Konzentration von CO2 in der Atmosphäre verursacht wird.
Es wurde festgestellt, dass die Temperatur in der Schweiz sogar fast doppelt so stark angestiegen ist wie im globalen Mittel. Wie lässt sich das erklären?
Die Temperatur ist in der Schweiz bereits um 2 Grad angestiegen, im globalen Mittel um 1,1 Grad. Das hat damit zu tun, dass wir weiter vom Ozean entfernt sind als beispielsweise Frankreich oder Deutschland. Ausserdem liegt die Schweiz in der Alpenregion, die klare Jahreszeiten kennt. Da die Winter und damit die Schneebedeckung, die die Sonnenstrahlen reflektiert, jetzt später kommen und früher gehen, heizt sich diese Region schneller auf. Das gilt natürlich auch für andere Regionen nördlich des 60. Breitengrades, wo die Schneebedeckung und das Meereis ebenfalls bereits stark zurückgegangen sind.
Sie erforschen die Zusammenhänge des Klimas seit vielen Jahren, waren 1998 bis 2015 im IPCC, dem wichtigsten internationalen Forscherrat, der die Grundlagen für die globale Klimapolitik schafft. Sie haben viele Preise und Auszeichnungen erhalten, wie kamen Sie zum Forschungsgegenstand Klimawandel?
Ich studierte in Zürich ab 1980 Umweltphysik. Das war damals ein ganz neuer Studiengang. Die ETH wusste noch überhaupt nicht, was genau der Inhalt des Studiengangs sein würde. Das entwickelte sich erst im Laufe des Studiums. Dadurch hatten wir Studierenden bei der Wahl der Studienfächer eine grosse Freiheit. Als dann ein Professor, der in Kanada eine neue Forschungsgruppe aufbaute, die sich mit dem Klimawandel befasste, meinen Chef an der ETH besuchte, begann mich das Thema zu interessieren.
War Ihnen von Beginn an klar, welche Bedeutung diese Frage für die Menschheit haben wird?
Ja natürlich, das war doch bereits 15 Jahre, nachdem der Club of Rome gegründet worden war. In den 1970er-Jahren war das Umweltbewusstsein stärker als heute. Gewässerverschmutzung, Abfallentsorgung … das waren damals grosse Themen. Dennoch wuchs der Konsum infolge der Globalisierung seit Ende der 1990er-Jahre ungebremst und verschärfte diese Probleme weiter.
Sie haben als Klimaforscher dieses Jahr den Prix Caritas 2021 erhalten, weil Sie nicht nur die naturwissenschaftliche Dimension des Klimawandels erforschen, sondern auch die sozialen Folgen miteinbeziehen. Welche Fragen beschäftigen Sie da?
Neben der Frage, wie die Treibhausgaskonzentration das Klima beeinflusst, ist auch die Frage ein grosses Thema, welche Auswirkungen der Klimawandel auf eine Region hat. Durch die Arbeit beim IPCC wurde schnell klar, dass es hier einen riesigen Informationsbedarf gibt. Das betrifft vor allem die verwundbarsten Regionen der Welt, also Regionen, die wie beispielsweise Bangladesch einerseits von der geografischen Lage her besonders exponiert sind und sich andererseits auch schlecht an den Klimawandel anpassen können, weil sie weder die Finanzen besitzen noch über die Technologien verfügen. Die Niederlande sind zwar auch stark exponiert, aber besser gerüstet, um sich vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen. Vor dem, was im 22. Jahrhundert noch auf sie zukommen wird, sind aber auch sie nicht gewappnet. Österreich und die Schweiz sind hier ganz anders aufgestellt.
Sie arbeiten zusammen mit anderen Wissenschaftlern an einem Grossprojekt für die kommenden zehn Jahre. Worum geht es da?
Es geht darum, die Wirkung von Klimaveränderung, Landnutzung und Biodiversität auf Mensch und Natur zu untersuchen. Dazu werden vier Hotspots auf der Erde untersucht. Wir wollen dazu die Menschen vor Ort in Kenia, Peru und Laos miteinbeziehen. Im Fokus stehen die Entwicklung des Klimas und der Wasserressourcen, die Biodiversität, die Landnutzung und die Lebensumstände der Menschen. Ziel ist, «nature conservation» nachhaltig zu gestalten und dabei «human well-being» zu verbessern.
Was wissen wir über die sozialen Folgen des Klimawandels? Befürchtet wird oft, dass Klimaschutz teuer ist, und für Haushalte mit geringem Einkommen zu höheren Kosten führt. Die Sturzfluten und die massiven Überschwemmungen im vergangenen Sommer forderten in Deutschland fast 200 Tote und verursachten Schäden in Milliardenhöhe. Vermutlich sind auch solche Ereignisse nicht sozialgerecht?
Leider wissen wir darüber noch nicht viel. Deshalb würde ich mir wünschen, dass sich die Sozialwissenschaften ähnlich wie die Klimawissenschaften organisieren würden, um die sozialen Folgen des Klimawandels zu erforschen. Vor 30 Jahren waren wir auch erst einzelne Forscher, die sich mit dem Klima befassten. Heute sind wir eine riesige weltweite Community, die in engem Kontakt ist und einen intensiven Austausch pflegt. Das sollte es auch in den Sozialwissenschaften geben. Auch im IPCC sind Sozialwissenschaftler, Biologen, Ökologen und sogar Philosophen dabei, aber nur eine Handvoll. Vor allem die Wirtschaftswissenschaft scheint sich erst jetzt langsam für das Thema zu interessieren. Das ist bedauerlich, denn die Lösung der Klima- und die Ressourcenproblematik braucht den Input der Wirtschaftswissenschaften dringend.
Vor 31 Jahren wurde der erste IPCC-Bericht publiziert, und die Folgen der Klimaerwärmung sind inzwischen deutlich spürbar. Dennoch ziehen Politik und Gesellschaft aus den Erkenntnissen der Wissenschaft nach wie vor nicht die nötigen Konsequenzen. Statt einer CO2-Reduktion wird gemäss einem UNO-Bericht jetzt bis 2030 ein Anstieg der Treibhausgase um 16 Prozent erwartet. In der Schweiz ist das CO2-Gesetz, das kein radikaler Schritt gewesen wäre, letzten Juni an der Urne gescheitert. Ist das nicht frustrierend?
Äusserst frustrierend, aber es ist auch einiges passiert. Das Pariser Klimaabkommen legt ja als Ziel fest, den Temperaturanstieg bis 2100 auf unter 2 Grad zu begrenzen. Es scheitert an der Implementierung der Länderziele. Das Problem ist, dass die Zeit nun wirklich drängt. Wir können nicht einfach sagen, wenn das CO2-Gesetz gescheitert ist, dann machen wir bis 2030 ein neues. Dann sind uns gewisse Möglichkeiten, etwas für den Klimaschutz zu tun, entglitten. Immerhin gibt es auch Hoffnungssignale: Der Kanton Glarus hat sich ein absolut zukunftsweisendes Energiegesetz gegeben, das den Einbau neuer Ölheizungen verbietet.
Die Zeit läuft uns dennoch davon …
Klimaschutz ist auch eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten. Klimaschutz wäre für die Wirtschaft eigentlich eine Chance. Die Schweiz rühmt sich, Innovationsstandort zu sein. Die Schweiz hat genügend Geld, um in Innovationen zu investieren. Und die brauchen wir. Zum Beispiel eine zu 99 Prozent recycelbare Batterie. Dafür gäbe es einen Weltmarkt. Doch wir sind drauf und dran, diese wirtschaftlichen Chancen zu vergeben.
Stattdessen nehmen wir zur Kenntnis, dass der Weltraumtourismus nun so richtig Fahrt aufnimmt. Wer richtig viel Geld hat wie Elon Musk, Jeff Bezos, Richard Branson, fliegt heutzutage nicht mehr in die Karibik, sondern ins All. Ziemlich absurd, oder?
Bei allem Respekt für den Ideenreichtum, über den diese Leute verfügen … hier müssen sie mehr Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen. Flüge ins All sind sicher sinnvoll zur Erweiterung der Kenntnisse im Rahmen der Weltraumforschung. Als Freizeitvergnügen sind sie ein kompletter Unsinn.
Sie setzen sich auch dafür ein, dass ihre Forschungsergebnisse in Politik und Gesellschaft zur Kenntnis genommen und die Konsequenzen daraus gezogen werden. Wie erleben Sie als Forscher die Politik. Werden Sie häufig zu Rate gezogen?
Es kommt vor, aber bei der CO2-Gesetzesrevision wurde die Wissenschaft jedenfalls nicht involviert. Ich sage nicht, dass das Abstimmungsergebnis anders ausgefallen wäre, aber im Vorfeld strategischer Entscheidungen, wie beispielsweise beim CO2-Gesetz, wäre ein Austausch über die üblichen politischen Interessenvertretungen hinaus sicher sinnvoll – natürlich nicht einen Monat vor der Abstimmung, sondern möglichst frühzeitig.
Die Wissenschaft wird zu wenig zur Kenntnis genommen, dafür eine streikende Schülerin und die von ihr ins Leben gerufenen Schülerstreiks und Demonstrationen Fridays for Future.
Interessant ist, dass die Klimajugend immer auf die Wissenschaft Bezug genommen hat. Sie kannte die Ergebnisse und die Argumente der Wissenschaft sehr gut.
Haben Sie auch versucht, sich über die sozialen Medien Gehör zu verschaffen, wie das manche Forscher ja tun?
Das tue ich mir nicht an. Viele meiner Kollegen twittern. Um möglichst viele Follower zu haben, muss man seine Follower ständig unterhalten. Das ist nichts für mich.
Welches Forschungsziel beim Thema Klima möchten Sie noch erreichen?
Wir wollen das älteste Eis in der Antarktis finden. Dazu hoffen wir, einen Eisbohrkern zu bergen, der einen Rückblick auf mehr als 1,5 Millionen Jahre ermöglicht. Das ist ein grosses europäisches Projekt, «Beyond Epica – Oldest Ice», an dem die Schweiz führend beteiligt ist.
Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich?
Es geht darum, eine lückenlose Klimageschichte erzählen zu können. Vor 20 000 Jahren wären wir hier in Bern unter einer 400 Meter dicken Eisdecke. Alle etwa 100 000 Jahre gab es während der letzten 800 000 Jahre eine Eiszeit, davor ereigneten sich diese Eiszeiten zweieinhalbmal schneller, nämlich alle 40 000 Jahre. Wir wollen wissen, wie es zu diesem Wechsel kam. Wir sind überzeugt, dass die Treibhausgase dabei eine wichtige Rolle gespielt haben, aber wir wissen nicht, in welchen Konzentrationen. Diesen Schatz wollen wir heben. Wenn wir verstehen, wie sich die Dynamik der Veränderungen wie Meeresspiegelerhöhung den Treibhausgaskonzentrationen anpasst, können wir auch die Zukunft noch besser abschätzen.
6. IPCC Bericht – die wichtigsten Ergebnisse
Der Klimawandel betrifft mittlerweile jede Region der Erde.
Die globale Mitteltemperatur hat sich seit Beginn der Industrialisierung um ca. 1,1 Grad erwärmt, wobei die Erwärmung über Land (1,6 Grad) grösser ist als über den Ozeanen (0,9 Grad).
Die Temperatur in der Schweiz ist circa doppelt so stark angestiegen als im globalen Mittel.
Das gesamte Klimasystem (Atmosphäre, Ozeane, Meereseis und Gletscher) verändert sich in einem Ausmass und Tempo wie seit vielen Jahrtausenden nicht.
Bereits beobachtete Auswirkungen des Klimawandels sind neben der weltweiten Erwärmung, dem Anstieg des Meeresspiegels und dem Abschmelzen der Gletscher, Grönlands und der Antarktis eine Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen und Starkniederschlägen und das häufigere Auftreten von Trockenphasen in einigen Regionen der Welt.
Thomas Stocker
1987 schloss Thomas Stocker sein Studium der Umweltphysik an der ETH Zürich mit dem Doktorat ab.
Seit 1993 ist er Professor am Physikalischen Institut der Universität Bern, wo er die Abteilung für Klima- und Umweltphysik leitet. Das Team beschäftigt sich damit, vergangene und zukünftige Klimaveränderungen zu modellieren. Mit diesem Ziel werden Eisbohrkerne aus der Antarktis und Grönland analysiert. 1998–2015 wirkte Thomas Stocker an den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mit. Er verantwortete im IPCC unter anderem als Co-Vorsitzender den fünften Klimabericht. Dieser bildete die wissenschaftliche Grundlage des Pariser Klimaabkommens von 2015.