Praxisbeispiel

Kann eine medizinische Therapie angeordnet werden?

03.12.2023
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Das Prinzip der Subsidiarität rechtfertigt die Auflage einer medizinischen Therapie (beispielsweise eine Psychotherapie), durch den Sozialdienst, wenn diese dazu dient, die berufliche Lage zu verbessern und dadurch die Minderung der Bedürftigkeit erreicht werden kann.

Markus Bucher wird seit einigen Jahren mit Sozialhilfe unterstützt. Eine Teilnahme an einem Einsatzprogramm musste aufgrund des Vorliegens eines ärztlichen Zeugnisses, das ihm eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, wieder abgebrochen werden. In der Folge hat die Sozialhilfebehörde im Einverständnis mit Markus Bucher direkt Kontakt mit seiner Hausärztin aufgenommen. Diese hat in Aussicht gestellt, dass sich der Gesundheitszustand und damit auch die beruflichen Möglichkeiten von Markus Bucher mit einer Therapie verbessern würden. Dieser hat die Therapie jedoch bisher verweigert. Als Grund gibt er an, dass er der Meinung sei, dass sich sein Gesundheitszustand durch eine medizinische Therapie nicht verbessern lasse.

Frage

Kann die Sozialbehörde die Durchführung einer medizinischen Therapie anordnen?

Grundlagen

In der Sozialhilfe gilt das Prinzip der Subsidiarität (SKOS-RL A.3). Dies bedeutet, dass jeder und jede alles Zumutbare unternehmen muss, um eine Notlage aus eigenen Kräften zu beheben (SKOS-RL A.3, Erläuterungen lit. a). Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips, das in allen kantonalen rechtlichen Grundlagen verankert ist, ist das Minderungsprinzip (SKOS-RL A.4.1 Abs. 8). Demgemäss hat eine unterstützte Person nach eigenen Kräften zur Minderung und Beseitigung der Bedürftigkeit beizutragen und alles Zumutbare zu unternehmen, um den Unterstützungsbedarf möglichst gering zu halten und wieder finanziell selbstständig zu werden. Wenn dafür Massnahmen der beruflichen und sozialen Integration angezeigt und im konkreten Fall zumutbar erscheinen, können diese mittels Auflage auferlegt werden (SKOS-RL A.4.1, Erläuterungen lit. d, und SKOS-RL F.1). Massnahmen zur Verbesserung der beruflichen und sozialen Lagen können neben Erbringung von Arbeitsbemühungen, Besuchen von Sprachkursen, Aufsuchen von Beratungsstellen auch ärztliche oder therapeutische Behandlungen sein (Guido Wizent, Sozialhilferecht, Zürich, 2020, N 425).

Beim Eingriff in Grundrechte, wie das unter anderem bei der Anordnung einer Therapie der Fall ist (Grundrecht auf persönliche Freiheit [Art. 10 Abs. 2 BV]), ist der Schutzbereich von Art. 36 BV zu beachten: ausreichende gesetzliche Grundlage, überwiegendes öffentliches Interesse und Verhältnismässigkeit.

Ausgangspunkt stellt bei Massnahmen, die mit dem Ziel der Minderung der Bedürftigkeit in Zusammenhang stehen (wie therapeutische Behandlungen), das oben ausgeführte Subsidiaritätsprinzip dar, das in allen kantonalen rechtlichen Grundlagen verankert ist und in verschiedenen Bestimmungen konkretisiert wird (z. B. Auflagen und Weisungen).

Verhältnismässig ist eine Massnahme dann, wenn sie geeignet, erforderlich und für die betroffene Person zumutbar ist (SKOS-RL A.4.2). Zumutbar ist eine Auflage, wenn ein vernünftiges Verhältnis zwischen dem angestrebten Ziel und den Einschränkungen, die sich dadurch für die unterstützte Person ergeben, besteht (SKOS-RL A.4.2, Erläuterungen lit. b). Auflagen sind nach Möglichkeit mit der unterstützten Person gemeinsam auszuhandeln (SKOS-RL F.1, Erläuterungen lit. c).

Immer zu berücksichtigen ist auch die persönliche Hilfe nach der SKOS-RL B.3, mit der Unterstützung in belastenden Lebenssituationen geboten werden soll.

Antwort

Für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit ist eine medizinische Fachmeinung erforderlich. Dieser sollte entnommen werden, dass die Therapie geeignet ist, die berufliche Integration zu fördern oder zumindest zu erhalten. Sie sollte zudem das mildeste Mittel sein, um die berufliche Integration zu erreichen. Die Hausärztin kann in der Regel den Therapiebedarf und die Wirkung aus allgemeinmedizinischer Sicht beurteilen. Die Sozialhilfe darf Markus Bucher deshalb grundsätzlich die Auflage machen, die Therapie wahrzunehmen. Es besteht auch die Möglichkeit, den Therapiebedarf, die Wirkung und die Zumutbarkeit vertrauensärztlich abklären zu lassen. Weil Markus Bucher der Meinung ist, die Therapie helfe ihm nicht, ist es jedoch sinnvoll, seine Abwehrhaltung im Rahmen der persönlichen Hilfe aufzunehmen, gegebenenfalls mit der Hausärztin Rücksprache zu halten, ihm bei der Therapeutensuche zu helfen und ihn während der Therapie zu begleiten. Bei Zweifeln an der Zumutbarkeit der medizinischen Therapie ist eine fachärztliche Meinung einzuholen oder, falls möglich, die Therapie probehalber verbunden mit einer Beurteilung durch den Therapeuten zu besuchen.

Anja Loosli Brendebach
Kommission Richtlinien und Praxis
Ruth Schnyder
Kommission Rechtsfragen

Praxis

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen beantwortet und publiziert, die der SKOS im Rahmen ihrer Beratungsangebote gestellt werden.

Weitere Informationen unter skos.ch → Beratung für Institutionen.