Innovative Arbeitsintegrationsmodelle für Frauen
Seit fast 20 Jahren unterstützt der private Verein Crescenda in Basel Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrung bei der Verwirklichung eigener Geschäftsideen oder beim Einstieg in den Arbeitsmarkt mittels innovativer Integrationsprojekte. Dadurch finden rund 80 Prozent der Teilnehmerinnen innerhalb von zwei Jahren Zugang zu einer bezahlten Arbeit.
An der Bundesstrasse 5, mitten im Stadtbasler Wohngebiet, kocht jeden Tag eine andere Frau Köstlichkeiten aus ihrem Heimatland, die im Bistro Crescenda angeboten werden. Das dreistöckige Herrschaftshaus beherbergt nicht nur das Bistro, sondern ist auch Hauptsitz des Vereins Crescenda, der sich für die Integration von Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrung einsetzt.
Béatrice Speiser, selbstständige Advokatin und Unternehmerin, gründete Crescenda 2004, inspiriert durch ihre Besuche von internationalen Mikrokreditprojekten mit Unternehmerinnen in Indien. Das Projekt stiess von Anfang an auf grosses öffentliches Interesse, vor allem durch die Geschichten und Geschäftsideen der Frauen. Crescenda wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem eidgenössischen Integrationspreis.
Crescenda geht es hauptsächlich um Potenzialentfaltung sowie darum, bedürfnisorientiert zu arbeiten und auf die Frauen zuzugehen. «Was unser Projekt ausmacht, ist, dass die Frauen wirklich freiwillig zu uns kommen. Wir machen Werbung auf verschiedenen Kanälen, aber die meisten finden auf Empfehlung von früheren Absolventinnen zu uns », erklärt Corinna Zuckerman, Co-Geschäftsführerin des Vereins. Die Crescenda-Community besteht aus aktuellen Teilnehmerinnen, aus über 200 Ehemaligen, über 60 Freiwilligen, Freunden und Bekannten des Crescenda-Netzwerks. Durch diverse Feste und Anlässe mit dieser Community entstehen viele Möglichkeiten für die Frauen, ihr Netzwerk zu erweitern und Anschluss ausserhalb ihres Familiensystems zu finden.
Doppelte Diskriminierung
«Als Frau mit Migrationserfahrung wird man oft doppelt diskriminiert», weiss Corinna Zuckerman. Durch den migrantischen Hintergrund werden Qualifikationen, vor allem von Frauen aus Drittstaaten, oft nicht anerkannt, und nicht alle Erfahrungen sind per Zertifikat belegbar. Hinzu kommen zum Teil traumatisierende Erfahrungen, die die Frauen auf der Flucht machen mussten. Diese spezifischen Herausforderungen will Crescenda sichtbar machen, damit in der Öffentlichkeit das Verständnis für Frauen mit Migrationserfahrung wächst. Meist werden Integrationsbemühungen bei immigrierenden Familien nur beim Familienvater gemacht. Es können bis zu 20 Jahre vergehen, bis Frauen zu Crescenda kommen. Es besteht daher auch kein Alterslimit, denn in jeder Lebenslage kann man das Bedürfnis entwickeln, sich weiterzubilden. «Wir schaffen für alle Teilnehmerinnen einen sicheren Rahmen, damit sie ihr Selbstvertrauen wieder aufbauen können. Mit der täglichen praktischen Anwendung der Sprachkenntnisse geschieht die Integration rascher.» Dieser Ansatz zeigt Wirkung. «Wir sind stolz auf unsere Integrationsquote», erklärt die Co-Geschäftsführerin, denn 80 Prozent der Frauen finden innerhalb von zwei Jahren eine bezahlte Tätigkeit. Crescenda sieht sein Programm klar als berufliches Integrationsinstrument, unterstützt durch soziale Elemente, denn diese sind unerlässlich.
Bedarfsorientierte Angebote
Anfangs begleitete der Verein Frauen bei der selbstständigen Existenzgründung. Für viele Teilnehmerinnen des Gründungskurses bot und bietet die Geschäftsgründung eine echte Alternative zu einem Arbeitsmarkt, der ihr Potenzial oftmals unterschätzt. Voraussetzungen für die Teilnahme am Gründungskurs sind ein Sprachniveau B1 in einer Landessprache oder in Englisch sowie PC-Grundkenntnisse.
Über die Jahre hat sich das Angebot bedarfsorientiert weiterentwickelt. Immer mehr Frauen, für die eine Unternehmensgründung nicht zugänglich war, kamen zu Crescenda. Sie benötigten vorwiegend Unterstützung beim Spracherwerb und Hilfe bei der Integration in den Arbeitsmarkt.
Hauseigenes Lernatelier
Nach der Eröffnung des Bistros entstand ein zweites Standbein, das sich mit dem Berufstraining auf die Arbeitsintegration in den Branchen Gastronomie, Hauswirtschaft, Betreuung/Pflege fokussiert. Anforderungen hierfür sind ungefähr Sprachniveau A2 und viel Eigenmotivation. Nach einem individuellen Einführungsgespräch besuchen Interessentinnen einen Informationstag, wobei auch die Deutschkenntnisse geprüft werden. «Es gibt Frauen, denen wir nahelegen, nächstes Jahr wiederzukommen, da die Sprachkenntnisse noch zu rudimentär sind, aber dann können sie einen hauseigenen Deutschkurs kostenlos besuchen, den Crescenda seit Frühling 2023 anbietet», erläutert Corinna. Die Teilnehmerinnen erhalten in der ersten Kurshälfte eine theoretische Berufsorientierung, gefolgt von einem dreimonatigen Praxiseinsatz. Diese können im Bistrot oder bei einem der zahlreichen externen Partner, je nach Entwicklungswünschen und -möglichkeiten, stattfinden. Nach dem Berufstraining können sich die Teilnehmerinnen um eine befristete Anstellung im Bistro bewerben und damit erste Berufserfahrungen sammeln. «Diese sind bezahlt und trotzdem noch eng begleitet», wie Corinna ausführt. Andere Teilnehmerinnen finden mit der Unterstützung ihrer Einzelcoaches Stellen bei einem der Partnerbetriebe oder sonstigen Unternehmen, mehrheitlich in der Gastronomie, im Care- oder Reinigungsbereich. Das Berufstraining ist kostenpflichtig und wird in der Regel von der Sozialhilfe Basel-Stadt und Basel-Landschaft übernommen.
Crescenda verfügt über ein breites Beziehungsnetz zu Partnerbetrieben. Der allgemeine Fachkräftemangel ist für die Integration derzeit von Vorteil. Denn Betriebe kommen aktiver auf Crescenda zu. Letztes Jahr waren 90 Prozent der Kursteilnehmerinnen noch vor Ende des Kurses in Anstellungen vermittelt, ein Novum. «So können wir das brachliegende Potenzial aufzeigen», meint Corinna. Crescenda begrüsst es sehr, wenn die Sozialhilfe ihre Integrationsbemühungen vermehrt auf Frauen und Mütter legt. Ein gutes Beispiel dafür ist Maliha; die Afghanin ist vor fünf Jahren mit ihrer heute zwölfjährigen Tochter und ihrem neunjährigen Sohn aus dem Iran in die Schweiz geflüchtet. Eine gute Freundin hat ihr Crescenda empfohlen. Sie hat bei Crescenda Deutsch (inkl. Telc-A2-Zertifikat) gelernt, einen Computerkurs besucht und das Berufstraining durchlaufen. Maliha schätzt den Austausch unter den Frauen sehr. «Ich habe viele Freundinnen hier gefunden», sagt sie dankbar. Seit Januar 2023 hat sie eine Stelle im Bistro Crescenda. Im Iran konnte sie die Schule nur besuchen, bis sie acht Jahre alt war, danach nicht mehr. Mit 18 heiratete sie und wurde Mutter. «Durch Crescenda kann ich Erfahrungen in der Gastronomie sammeln, die Arbeit im Service gefällt mir», meint sie. Gefragt nach ihrem Zukunftswunsch sagt sie als Erstes, dass sie besser Deutsch sprechen möchte, um so noch mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben und eine externe Festanstellung zu finden.
Zusammenarbeit mit Sozialpartnern
«Es ist wichtig, dass wir uns mit den Sozialdiensten und anderen Behörden abstimmen, denn nicht immer werden die Einschätzungen geteilt.» Crescenda erlebe oft, dass Frauen erst durch das Berufstraining entdeckten, wie eingeschränkt ihr Universum Zuhause bislang gewesen sei. «Das Berufstraining ist ziemlich intensiv. Die Frauen sind den ganzen Tag engagiert», berichtet Corinna. Man spüre, wie die Energie zurückkomme. Beim Thema Geschäftsgründung sei die Sozialhilfe jeweils ziemlich zurückhaltend, obwohl Crescenda in Einzelfällen viele gute Erfahrungen mit Gemeinden gemacht habe. «Für viele Frauen ist es die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen», schildert Corinna am Beispiel einer Programmteilnehmerin aus Somalia, die trotz gesundheitlicher Einschränkungen ein Take-away gründen konnte und damit zum Vorbild ihrer Familie wurde. Crescenda versteht zwar, dass die Sozialhilfe keine prekäre Selbstständigkeit fördern will, findet es aber wichtig, jeden Fall einzeln zu beurteilen, da so auch langfristig Sozialhilfegelder gespart werden können.
Projekt Kooperativen als weiteres Erfolgsmodell
Aus ihrer Zeit in New York brachte Corinna Zuckerman 2019 die Geschäftsidee der Kooperativen zu Crescenda, eine Möglichkeit, die für die Sozialhilfe sehr interessant sei, ist sie überzeugt. «Es ist eine Mischform zwischen selbstständig und angestellt, und es braucht kein Startkapital.» Gleichzeitig bietet dieses Modell viele Gestaltungsmöglichkeiten und viel Spielraum für die Frauen. Sie kreieren damit ihre eigenen Alternativen im Arbeitsmarkt, statt sich in die bestehenden Strukturen einfügen zu müssen. «Dies ermöglicht wiederum einen sozialen Aspekt, da sich die Gründerinnen gegenseitig unterstützen und fördern», so Corinna. Im Oktober 2021 wurde die Kooperative «flexifeen» gegründet, die erste von Frauen mit Migrationserfahrung geführte Kooperative für Reinigung und Alltagshilfe in der Schweiz. Mittlerweile hat die Kooperative nebst den neun Gründerinnen bereits elf Mitarbeiterinnen. «Sie steuern dieses Jahr auf eine halbe Million Umsatz zu und haben bis jetzt über 150 000 Franken an Sozialhilfegeldern eingespart», eine Bilanz, die sich laut Corinna sehen lassen kann.
Aufgrund der hohen Nachfrage steckt Crescenda derzeit in der Vorbereitung, das Projekt der Kooperative zu skalieren, damit es national angeboten werden kann. Der Verein möchte sozialunternehmerische Modelle entwickeln. «Da gehört viel Experimentieren dazu», schmunzelt Corinna. Der Verein feiert 2024 sein 20-jähriges Bestehen und bleibt seinem innovativen Image weiterhin treu.