Die sozialraumorientierte Beratung würdigt Menschen in ihrem Lebensumfeld und die staatliche/behördliche Unterstützung nimmt eine konsequent subsidiäre Position ein.
Ansätze und Konzepte für die Beratung

Hilfebedarf passgenau im Sozialraum zusammenführen

03.09.2023
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Der Regionale Sozialdienst (RSD) Frutigen ist ein mittelgrosser, polyvalenter, ländlicher Sozialdienst mit acht Anschlussgemeinden im Berner Oberland. Seit 2016 konnten in sozialraumorientierten Projekten die verfügbaren Angebote ausgebaut und neue Dienstleistungen implementiert werden. Der Hilfebedarf im Einzelfall kann dadurch mit passgenauen Lösungen und Angeboten im Sozialraum zusammengeführt werden. Dies mit dem Ziel, kostenintensive Doppelspurigkeiten oder Fehlversorgungen zu vermeiden.

Im Zusammenhang mit der sinnvollen Organisation und Finanzierung der Jugend- und Familienhilfe hat das Konzept der Sozialraumorientierung, das Ende der 1990er-Jahre in Deutschland entwickelt wurde, auch in der Schweiz an Bedeutung gewonnen. Konkret bedeutet der Ansatz: die Orientierung am Willen der Betroffenen; die Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe; die Konzentration auf die Ressourcen sowie Kooperation und Koordination mit involvierten Hilfesystemen. Durch die systematische Nutzung vorgelagerter Angebote sollen Hilfesuchende die passende Hilfe erhalten. Entsprechend fokussieren Fachpersonen in der sozialraumorientierten Beratung systematisch das Lebensumfeld der unterstützungsbedürftigen Person. Dabei wird davon ausgegangen, dass in der Umwelt Ressourcen zur gelingenden Alltagsbewältigung zur Verfügung stehen. In diesem Sinne ist die Sozialraumorientierung auch anschlussfähig an das Handlungskonzept Case Management, in dem die verfügbaren Ressourcen auf den Ebenen Einzelfall und Organisation sowie System- und Versorgungsraum systematisch einbezogen werden.

Exemplarische Umsetzung

Da im Einzugsgebiet des RSD Frutigen von verschiedenen Organisationen soziale Dienstleistungen angeboten werden, wurde 2016 ein Koordinationsbedarf offensichtlich. Zudem war klar, dass in komplexen Lebenssituationen eine zielführende Zusammenarbeit zwischen involvierten (Beratungs-)Organisationen, Amtsstellen, informellen Netzwerken (Nachbarschaft) und den Hilfsbedürftigen sowie ihren Bezugspersonen zentral ist. In der Gemeinde Frutigen gibt es verschiedene Gruppen von Menschen, die einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt sind: wenig qualifizierte erwerbsfähige Menschen, alleinerziehende Elternteile, Personen in prekären Arbeitsverhältnissen usw. Zudem sind in Familien zum Teil chronische Überlastungssituationen präsent, wegen familiärer Konflikte, Trennungen und Scheidungen oder gesundheitlicher Probleme. Auf dem Land ist es nicht selbstverständlich, dass rechtzeitig Hilfe geleistet werden kann, weil Menschen sich wegen Scham, Vorurteilen oder der Unkenntnis von Hilfsangeboten tendenziell spät oder gar nicht melden. Durch niederschwellige Angebote wie die Schulsozialarbeit, die offene Kinder- und Jugendarbeit sowie die Fachstelle ländliche Familienberatung setzt der RSD Frutigen deshalb bewusst auf Prävention.

Dies ist nur möglich, weil die Anschlussgemeinden der Finanzierung der entsprechenden Sozialraumprojekte zugestimmt und diese vorgelagerten Dienstleistungen nach den erfolgreichen Pilotphasen schliesslich ins Regelangebot des RSD Frutigen aufgenommen haben. Neben der Legitimation auf der politischen Ebene müssen für die nachhaltige Umsetzung von Sozialraumprojekten auch auf der Organisationsebene die entsprechenden Rahmenbedingungen vorhanden sein: qualifizierte Fachpersonen, reduzierte Fallbelastung in Projektphasen und eine sozialraumorientierte Grundhaltung für die Entwicklung und Pflege interinstitutioneller Netzwerke. Die Netzwerkpflege fordert von den beteiligten Organisationen verbindliche und transparente Kooperationen, die in einer Zusammenarbeitsvereinbarung (Commitment-Letter gemäss Case Management) verankert sind. Hier ist auch wichtig, die «Raum-Begriffe» zu klären, damit alle Beteiligten vom Gleichen sprechen. Das heisst, dass die Organisationen und Institutionen, mit denen im Sozialraum eine engere Zusammenarbeit sinnvoll ist (oder kultiviert werden soll) und jenen, die im erweiterten Versorgungsraum relevant sind, klar definiert werden.

Ethische Dimension

In den letzten Jahren hat sich das sozialraumorientierte Handeln in der Beratung für den RSD Frutigen bewährt, weil der Unterstützungsprozess so konsequent subsidiär gestaltet werden kann. Im Team der Sozialarbeitenden hat sich ein Selbstverständnis entwickelt, die Ressourcen in der Lebenswelt der Klientinnen und Klienten konsequent und systematisch miteinzubeziehen und die staatliche Hilfe (nicht nur im monetären Bereich) als letztes Netz zu nutzen. Die Basis dafür sind wöchentliche Fallbesprechungen und Arbeitsinstrumente mit Elementen aus dem Case Management und der Sozialraumorientierung. Der Sozialdienst würdigt den Alltag von Menschen, die Hilfe benötigen. Alltag meint die Wirklichkeit des Selbstverständlichen, des Vertrauten, der Nähe, in der Menschen sich herausgefordert und zugehörig wissen. Wenn Individuen in ihrem Sozialraum ernst genommen werden und die Beratung konsequent subsidiär ist, sinkt die Gefahr, dass hilfsbedürftige Menschen durch professionelles Handeln instrumentalisiert werden oder strukturelle Gewalt erleben.

In der sozialraumorientierten Beratung werden Menschen als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt gewürdigt, während die Sozialarbeitenden die Haltung des Nichtwissens einnehmen. Die Fachpersonen verstehen sich gleichzeitig als Experten für die bedarfsgerechte und methodisch-professionelle Gestaltung des Unterstützungsprozesses, was die Sicherstellung der zieldienlichen Kommunikation, Kooperation und Koordination mit involvierten Helfern umfasst. Es geht darum, möglichst massgeschneiderte Unterstützung zu fördern und dabei die verschiedenen Ressourcen adäquat und kreativ einzubauen.

Weiter beinhaltet die sozialraumorientierte Beratungskompetenz die Fähigkeit, Passungsverhältnisse zwischen Bedarfslagen der Klientinnen und Klienten und potenziell passenden Angeboten herzustellen. Wenn in einer Fallsituation beispielsweise eine therapeutische Intervention angezeigt ist, werden die entsprechenden Fachkräfte in Absprache mit den Betroffenen zur Unterstützung beigezogen. Schliesslich ist die Kenntnis der Ressourcen im lokalen Sozialraum zentral, damit Fachpersonen in der Beratung nachhaltige Lösungen fördern können. Einerseits ist es wichtig, dass die verschiedenen staatlichen und privatrechtlich organisierten Unterstützungsangebote bekannt sind. Andererseits beinhaltet die Beratungskompetenz aus sozialräumlicher Perspektive auch, strukturelle Versorgungsdefizite zu erkennen und diese den entsprechenden Entscheidungsträgern der regionalen bzw. kantonalen Versorgungsstruktur zu melden. Nur so können in der Praxis wahrgenommene Fehlversorgungen reduziert und Doppelspurigkeiten rechtzeitig in der Versorgungsstruktur vermieden werden.

Befähigung zur Problemlösung

Die sozialraumorientierte Beratung würdigt also Menschen in ihrem Lebensumfeld und die staatliche/behördliche Unterstützung nimmt eine konsequent subsidiäre Position ein. So entsteht die Chance, dass Einzelpersonen und Familien in Notlagen massgeschneiderte Unterstützung erhalten und befähigt werden, Probleme erfolgreich zu meistern. Sozialraumorientierung in der Beratung ist eine Praxis, die Mut macht. Menschen wird durch professionelles Handeln ermöglicht, eigene Stärken zu erkennen und die notwendige Motivation zu entwickeln, den eigenen Lebensraum selbstbestimmt zu gestalten.

Die praktische Umsetzung der Sozialraumorientierung muss auf verschiedenen Ebenen gedacht und umgesetzt werden: im Einzelfall, in Organisationen und in Versorgungsräumen. Die Herausforderung dabei ist, zwischen verschiedensten Anspruchsgruppen und Entscheidungsträgern ein kooperatives Miteinander zu gestalten, damit die grösstmögliche wünschbare Wirkung entfaltet wird. Im RSD Frutigen zeigt die kultivierte Sozialraumorientierung in der Beratung Erfolg versprechende Tendenzen, die messbar zur Reduktion des aufgewendeten Sozialhilfebudgets beitragen. Gleichzeitig wird die Würde von Menschen als höchstes Gut gewahrt, wenn der individuelle Bedarf und die genutzten Angebote schlicht zueinander passen.

Quellen

Fehren, O., und Hinte, W. (2013). Sozialraumorientierung – Fachkonzept oder Sparprogramm? Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. Lambertus-Verlag.

Bieri, Leber und Tafel (2011). CM in der gesetzlichen Sozialarbeit. Impuls, 12-13.

Bieri, M., und Imoberdorf, S. (2019). Ein Netzwerk für Familien auf dem Land. SozialAktuell, 36-37.

Markus Bieri
Leiter Regionaler Sozialdienst Frutigen
Sonja Imoberdorf
RSD Frutigen