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Debatte

Genfer Sozialhilfereform: In soziale Begleitung investieren

04.12.2022
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In Genf wird mit dem neuen Gesetzesentwurf über die Sozialhilfe und die Bekämpfung der Armut die Art und Weise, wie sozial und wirtschaftlich schwächere Menschen unterstützt werden, völlig neu definiert. Trotz einem Wirtschaftswachstums von 4 Prozent im Jahr 2021 hatte Genf die Zahl der durch Sozialhilfe unterstützten Personen in zehn Jahren um 76 Prozent ansteigen lassen. Das liess sich nicht mehr rechtfertigen.

Das 2012 in Kraft getretene Gesetz über die Eingliederung und die individuelle Sozialhilfe konzentriert sich in erster Linie auf die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Dennoch ist es nie gelungen, die Zunahme der Armut in unserem Kanton aufzuhalten. Während sich die wirtschaftliche Vitalität des Genfer Beckens Jahr für Jahr bestätigt, hat sich die Dauer des Sozialhilfebezugs zwischen 2015 und 2020 von durchschnittlich 44 auf 54 Monate verlängert. Die Zahl der unterstützten Personen hingegen ist in den letzten zehn Jahren explosionsartig gestiegen. Mehrere Evaluationen einer externen Kommission, die beauftragt wurde, die Grundlagen für die Reform zu schaffen, haben ergeben, dass das aktuelle Recht die Situation von Langzeitbeziehenden ohne echte Aussicht auf einen Ausstieg noch weiter schwächen konnte. Die in den letzten Jahren vorgenommenen Verschärfungen der Sozialhilfegesetze und die damit einhergehenden Leistungskürzungen haben die Situation der am stärksten gefährdeten Personen wahrlich nicht verbessert.

Der Gesetzesentwurf zur Sozialhilfe und zur Bekämpfung der Prekarität ändert den Fokus, indem die Zukunft der Menschen durch Bildung gestaltet werden soll. Ausserdem wird der Wert der Arbeit anerkannt. Schliesslich setzt er auf soziale Begleitung, um eine dauerhafte Wiedereingliederung zu fördern. In erster Linie geht es darum, den Betroffenen mehr Möglichkeiten zu bieten, sich weiterzubilden oder neu zu qualifizieren, damit sie sich besser in einen anspruchsvollen und dynamischen Arbeitsmarkt integrieren können, der gleichzeitig beträchtliche Chancen bietet, sofern die Bewerbungsprofile mit den zu besetzenden Stellen übereinstimmen. Der Haken dabei ist, dass die Hälfte der Sozialhilfebeziehenden keine Ausbildung hat. Während die aktuelle Gesetzgebung dies nur teilweise zulässt, wird dem Parlament mit dem vorgeschlagenen Gesetz die Ausbildung in jedem Alter sowie die Umschulung an prominenter Stelle dargelegt. Dabei sei daran erinnert, dass es im Kanton Genf 330 000 Arbeitsplätze gibt, bei einer Erwerbsbevölkerung von nur 220 000 Personen! Mehr als das Arbeitsplatzproblem gilt es die Gleichung zwischen dem Arbeitsmarkt und qualifiziertem Personal zu lösen.

Die zweite grosse Veränderung ist der Einkommensfreibetrag. Eine unterstützte Person ist heute gezwungen, mehr als 50 Prozent zu arbeiten, um ein bescheidenes Einkommen von maximal 500 Franken zu erzielen. Das ist weder fair, noch liefert es einen Anreiz, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Das vom Staatsrat vorgeschlagene Gesetz wird es ermöglichen, einen Grossteil des erhaltenen Lohns zu behalten, und zwar ab dem ersten verdienten Franken (für die ersten 300 Franken wird ein Freibetrag von 100 Prozent gewährt, danach 15 Prozent des Einkommens).

Ein Gesetzesentwurf, der Lehren aus der Pandemie zieht

Der dritte Hauptpunkt dieser Reform betrifft die soziale Betreuung: Schluss mit der Betreuung, die für die Begünstigten Kontrolle und Druck bedeutet. Stattdessen sollen Orientierung, Prävention und Beratung, wofür Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ausgebildet sind, sowie Vertrauen im Vordergrund stehen. Letzteres ist unerlässlich, um Menschen zu helfen, ein positives Selbstbild zu entwickeln. In diesem Sinne wird der heute zu hohe bürokratische Aufwand verringert mit einem Grundbedarf, der für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten berechnet wird, und eine wohlwollende und ermutigende Begleitung gewährleistet, auch nach dem Austritt aus der Sozialhilfe.

Die letzte wichtige Änderung betrifft die Unterstützung von Selbstständigerwerbenden, die erheblich unter der Krise während der Pandemie gelitten haben. Das derzeitige Genfer System schliesst diese Gruppe von Erwerbstätigen von den meisten Sozialleistungen aus. Das derzeit im Grossen Rat diskutierte Gesetz sieht vor, dass sie in schwierigen Zeiten unterstützt werden können (die Dauer der Unterstützung wird von drei auf sechs Monate verlängert), ohne dass sie ihre berufliche Tätigkeit aufgeben müssen. Ein Unding, das aufgrund der aktuellen Gesetzgebung durchaus vorkommt ...

Durch die Auswirkungen dieser neuen Massnahmen wird sich die erwartete Verringerung der Anzahl Leistungsempfänger positiv auf den sozialen Zusammenhalt im Kanton auswirken, aber auch auf die Kosten, die mittel- und langfristig von der Bevölkerung zu tragen sind. Die heute getätigte soziale Investition wird über einen Zeitraum von zehn Jahren zu Einsparungen von schätzungsweise 224 Millionen Franken führen.

Ohne eine Reform des geltenden Gesetzes wird die Zahl der unterstützten Personen weiter steigen, und der heute beobachtete Kostenanstieg (+58,5 Prozent in zehn Jahren) wird nicht eingedämmt werden können. Anders ausgedrückt: Der Kanton müsste in den nächsten zehn Jahren mehr als 220 Millionen Franken und rund 20 000 zusätzliche Personen finanzieren.

Anstatt die Leistungsempfänger in der vergeblichen Hoffnung, dass dieser Ansatz sie zu einer Wiedereingliederung bewegt, zu kontrollieren und zu stigmatisieren, setzt die Genfer Regierung darauf, sie zu begleiten und ihnen die besten Werkzeuge anzubieten, um sich aus der Notlage befreien zu können. Und jenen, denen das nicht gelingt, soll ein Leben in Würde ermöglicht werden, ohne Vorwürfe und ohne Verurteilung.

Thierry Apothéloz
Staatsrat Kanton Genf