Genf geht das Problem der Überschuldung an
2023 hat eine breite politische Mehrheit in Genf das Gesetz über die Prävention und Bekämpfung der Überschuldung (LPLS) verabschiedet. Ziel des Gesetzes ist es, das in der Bevölkerung weitverbreitete Phänomen der Überschuldung zu bekämpfen und die Prävention zu verbessern. Der Kanton Genf geht damit entschlossen ein Problem an, das viele Menschen in Genf stark beeinträchtigt.
Gemäss dem Bundesamt für Statistik lebten im Jahr 2020 43 Prozent der Schweizer Bevölkerung in einem Haushalt mit mindestens einer Art von Schulden, und 15 Prozent hatten mindestens einen Zahlungsrückstand. Im selben Jahr stellte der Dachverband Schuldenberatung Schweiz fest, dass 73 Prozent der Forderungen von Personen, die eine Schuldenberatungsstelle aufsuchten, Steuerforderungen waren. Im Jahr 2024 betrug die Schuldenquote in Genf, die alle betreibungspflichtigen Privatpersonen ab dem Erheben eines Fortsetzungsbegehrens berücksichtigt, 8,7 Prozent. In einigen Genfer Gemeinden, wie in der Stadt Genf oder in Vernier, beträgt sie über 10 Prozent.
Überschuldung hat erhebliche Auswirkungen auf verschiedene Bereiche: auf die Gesundheit, da Schulden Stress und Angst auslösen und den Gang zum Arzt erschweren; auf die Beschäftigung, da Betreibungen ein Kündigungsrisiko darstellen und die Stellensuche erschweren; auf die Wohnsituation, da Mietzinsrückstände zu einer Zwangsräumung führen können und Betreibungen den Zugang zu einer Wohnung erschweren; auf die Sozialhilfe, da das Risiko einer Lohnpfändung den Anreiz mindert, sich von der Sozialhilfe abzulösen und wieder zahlungsfähig zu werden; und schliesslich auf die öffentlichen Finanzen, da Steuerrechnungen die ersten sind, die nicht beglichen werden, und nicht bezahlte Krankenkassenprämien zu 85 Prozent vom Staat übernommen werden. Generell hindern Schulden Menschen oft daran, in die Zukunft zu blicken, Pläne zu schmieden und ein emotional und sozial erfülltes Leben zu führen.
Diese Folgen der Überschuldung sind für den Staat mit Kosten verbunden. Der Kanton Genf hat das verstanden. Er will deshalb eine wirksame Politik in Angriff nehmen, die die Überschuldung der Bevölkerung eindämmt. Die Kantonsdepartemente sollen gemeinsam an der Problematik arbeiten. Denn Überschuldung ist ein komplexes Thema, das an der Schnittstelle verschiedener öffentlicher Politiken in den Bereichen Soziales, Finanzen, Beschäftigung, öffentliche Bildung, Wohnungswesen und Gesundheit angesiedelt ist.
Das Gesetz hat vier Schwerpunkte: Die Identifizierung der strukturellen Ursachen von Überschuldung, die Prävention und Sensibilisierung, die Früherkennung und die Beratung sowie Unterstützung bei der Sanierung der finanziellen Situation und der Entschuldung.
Strukturelle Ursachen identifizieren
Der erste Schwerpunkt, die Identifizierung der strukturellen Ursachen der Überschuldung, wird in den nächsten Wochen durch die Bildung einer Plattform konkretisiert, die sich aus Akteuren aus der Praxis und aus staatlichen Stellen zusammensetzt und deren Aufgabe es sein wird, die Entwicklung der Überschuldung in Genf zu beobachten, eventuell Studien in Auftrag zu geben, um sie zu messen, zu identifizieren, was zur Überschuldung führt, konkrete Vorschläge zur Prävention und Bekämpfung der Überschuldung zu machen und die korrekte Umsetzung des Gesetzes zu überwachen. Es wird bereits über die Rolle nachgedacht, die der Staat und einige seiner Praktiken bei der Verschuldung von Privatpersonen spielen können, insbesondere durch die Wartezeiten auf eine Entscheidung, die Komplexität der Behördengänge oder die mangelnde Lesbarkeit einiger offizieller Dokumente. Dieser Schwerpunkt beruht auf der Überzeugung, dass Überschuldung nicht nur eine Frage der individuellen Verantwortung ist, sondern dass auch das System eine wichtige Rolle spielt.
Prävention setzt bei Minderjährigen und jungen Erwachsenen an
Beim zweiten Schwerpunkt, Prävention und Sensibilisierung, geht es darum, die in Genf bestehenden Präventionsmassnahmen zu koordinieren und in Zusammenarbeit mit dem Erziehungsdepartement neue zu entwickeln, die sich an junge Erwachsene und Minderjährige richten. Auch eine Zusammenarbeit mit der Steuerabteilung ist vorgesehen, um Ausbildungsmodule zu schaffen, die Jugendliche dafür sensibilisieren, wie wichtig es ist, ihr Budget zu verwalten, ihre Steuererklärung auszufüllen und ihren administrativen Pflichten nachzukommen.
Der dritte Schwerpunkt, die Früherkennung, soll sicherstellen, dass Personen, die von Überschuldung bedroht oder frisch verschuldet sind, so schnell wie möglich erkannt werden. Der Kanton Genf gibt schon seit vielen Jahren Personen Gutscheine aus, die wegen ihrer Schulden Hilfe benötigen. Der Gutschein ermöglicht es ihnen, eine spezialisierte Schuldenberatungsstelle aufzusuchen, und wird von staatlichen Stellen wie dem kantonalen Arbeitsamt oder der Steuerverwaltung verteilt. 2023 wurden 184 Gutscheine von fünf Dienststellen ausgegeben, von denen 82 Prozent eingelöst wurden. Darüber hinaus werden Sensibilisierungsveranstaltungen zur Überschuldungsproblematik für die Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen organisiert, um die Gutscheine so sinnvoll wie möglich zu verteilen. Das Instrument gilt es zu stärken und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren, darunter die Genfer Gemeinden, neu zu überdenken.
Entschuldungsberatung
Der vierte Schwerpunkt, die Sanierung der finanziellen Situation und die Entschuldung, beinhaltet eine finanzielle Unterstützung von spezialisierten Entschuldungsberatungsstellen für die von ihnen erbrachten Leistungen für die Begleitung bei der Budgetverwaltung und Entschuldung. Zur Umsetzung des Schwerpunkts ist auch geplant, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für die Begleitung der Budgetverwaltung und Entschuldung zu schulen, insbesondere durch die Entwicklung von Online- und À-la-carte-Schulungsmodulen. Die Einrichtung einer Toolbox für Sozialarbeitende, die grundlegende Informationen, verschiedene Dokumente und eine Anleitung zur Unterstützung von Personen mit Schulden enthält, ist ebenfalls geplant. Diese Massnahmen sollen die Sozialarbeitenden in die Lage versetzen, Klienten in Fragen des Finanzmanagements, Budgets und der Verschuldung zu beraten und einen Teil der Entschuldungsarbeit zu leisten.
Das neue Genfer Gesetz für Sozialhilfe und Bekämpfung der Prekarität geht in die gleiche Richtung, indem es die Unterstützung bei der finanziellen Situation und der Entschuldung in die soziale Begleitung durch die Sozialbehörden einbezieht. Zur finanziellen Sanierung und Entschuldung von Privatpersonen hat der Kanton Genf ferner eine Vereinbarung mit der Groupe Mutuel unterzeichnet, die den Rückkauf von Verlustscheinen aus der Krankenversicherung erlaubt.
Die vier Schwerpunkte sollen im Rahmen der Legislaturplanung mit konkreten, von der Plattform vorgeschlagenen Massnahmen weiterentwickelt werden. Eine Verordnung wurde am 22. Mai 2024 verabschiedet. Sie enthält Bestimmungen zur Zusammensetzung der Plattform sowie zu den Bedingungen und Modalitäten der individuellen Begleitung, die die vom Staat beauftragten, spezialisierten Dienste für Schuldenberatung anbieten müssen.
Bedingungen für den Steuererlass
Ferner werden mit dem Gesetz die Bedingungen für den Steuererlass für Personen gelockert, die sich in einem Sanierungs- oder Entschuldungsprozess befinden. Die ersten Anträge wurden unter dieser neuen Regelung gestellt, und es entwickelt sich eine gute Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden, die die Entscheidungen treffen, und den auf Schuldenerlass spezialisierten Stellen, die die Anträge stellen. Ein Verzicht auf nicht steuerliche Forderungen des Staates ist ebenfalls vorgesehen, um Personen, die sich für die Begleichung ihrer Schulden einsetzen, die Möglichkeit zu geben, mit dem Staat Lösungen zu finden. Und nicht zuletzt definiert das neue Gesetz die Rolle der Gemeinden im Kampf gegen die Überschuldung. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich an der Plattform beteiligen, über die Problematik und die vom Kanton Genf entwickelte Politik informieren, aber auch Früherkennung betreiben und durch individuelle Begleitung zur Sanierung der finanziellen Situation und zur Entschuldung ihrer Einwohner beitragen.