Einelternfamilien und Erwerbslose belegen gemäss BFS den Spitzenplatz, wenn es darum geht, mit sehr wenig auszukommen.
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Familienarmut kennt keine Romantik

07.06.2022
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Familien und Armut gleich Familienarmut. Wenn die Medien keine Bilder von Menschen zeigen, die für eine Tüte Lebensmittel Schlange stehen, bleibt Armut oft unsichtbar. Und doch leben in der Schweiz eine Viertelmillion Menschen im Familienverbund an der Armutsgrenze. Zum Beispiel die Familie Brunner, die von 3500 Franken im Monat lebt.

Giorgio, der Protagonist des Romans «Die schwarzen Brüder», verlässt seine arme Tessiner Familie Richtung Mailand, um nicht zu verhungern. Die Herkunftsfamilie des Buben ist ohnmächtig dem Wohlwollen der Obrigkeit ausgeliefert. Die Macht hat, wer das Geld hat. Dies bekamen arme Menschen in der Schweiz bis in die nicht so ferne Vergangenheit zu spüren. Auch heute garantiert Erwerbsarbeit keinen gesicherten Lebensunterhalt. Es gibt keinen einheitlichen Mindestlohn, und die Wohnungsmieten erreichen in immer mehr Regionen Höhen, die nicht mal mehr für den Mittelstand erschwinglich sind.

Wer als Working Poor knapp das Geld für Wohnen, Essen und Krankenkasse verdient, verzichtet auf Ferien, schickt sein Kind nicht in den Turnverein und feiert keine Weihnachten. «Seit mehr als einem Jahr ist es bei uns knapp, wir essen Brot mit Aufschnitt oder mit Butter. Einfach damit der Magen was bekommt», schreibt eine Mutter in einem Brief, den die Winterhilfe Aargau im Dezember 2021 erhalten hat. Sie zieht mit Ihrem Ehemann zwei Kinder gross. «Wir haben mit den Kindern besprochen, dass wir Kleidung und Schuhe als Weihnachtsgeschenk kaufen.» Die Coronapandemie und die Inflation und Teuerung aufgrund des Krieges in der Ukraine tragen dazu bei, dass das Leben für viele immer unbezahlbarer wird.

Wer krank wird, seine Arbeit verliert oder sich scheiden lässt, läuft ebenfalls Gefahr, dass sein Einkommen nicht mehr oder nur noch knapp zum Leben reicht. Denn Einelternfamilien und Erwerbslose belegen gemäss BFS den Spitzenplatz, wenn es darum geht, mit sehr wenig auszukommen.

Familienarmut beginnt in der Primarschule (oder davor)

Familienarmut beginnt oft damit, welchen Ausbildungsweg die Betroffenen wählen, oder hängt mit ihrer geografischen Herkunft zusammen. Bereits im frühen Kindesalter können die Weichen für eine berufliche Zukunft gestellt werden. Einfach indem ein Kind adäquate Förderung erhält und die angeborene Freude, Neues zu lernen, beibehält. Das Kind braucht Unterstützung und Ermutigung, Hindernisse zu überwinden und einen Berufsweg einzuschlagen, dessen Früchte – also einen guten Lohn – es erst einige Jahre später ernten kann. Die Armutsgefährdung liegt bei Personen mit Bildungsstand obligatorische Schule zwischen 16 und 27 Prozent, bei jenen mit Abschluss auf der Tertiärstufe zwischen 5 und 8 Prozent.

Wohnen, Gesundheit, Kinderbetreuung

Was belastet das Budget einer armutsbetroffenen Familie besonders? Wohl das, was alle am teuersten zu stehen kommt: Wohnung, Gesundheit, Kinderbetreuung. Wenn das Geld immer gerade so reicht, können keine Reserven gebildet werden, und nur schon ein neuer Wintermantel liegt nicht drin. Also wäre es vielleicht ganz einfach: Reelle, den Lebenskosten angepasste Löhne oder umfassende Familienergänzungsleistungen beugen der Familienarmut vor. Und Armutsprävention und Chancengleichheit beginnt bereits im Kindesalter.

Und Giorgio, der Kaminfegerbub aus den «Schwarzen Brüdern»? Nachdem er beinahe sein Leben verliert, findet er Hilfe und kehrt als Lehrer in sein Tessiner Tal zurück.

«Ich lade niemanden zu uns nach Hause ein»

Hana Brunner* spricht mit uns am 8. April 2022 über ihre finanzielle Situation. Hana ist 42 Jahre alt und wohnt mit ihrer 11-jährigen Tochter Gina in einer Wohnung des gemeinnützigen Wohnbaus. Von ihrem 49-jährigen Ehemann Thomas lebt sie offiziell getrennt. «Ich weiss nicht, wo er jetzt wohnt», sagt sie, vermutet aber, dass der selbstständige Taxihalter in seinem Auto schläft. Hana ist gebürtige Slowakin und jobbt nach dem Abschluss der Tourismusfachschule als Kellnerin in der Prager Altstadt. Dort lernt sie einen gut gekleideten Mann kennen. Die beiden verlieben sich. Bald folgt die Hochzeit, und Hana siedelt in die Schweiz über. «Innerhalb einer Woche hatte ich zwei Jobs», erzählt Hana. Sie lernt Deutsch, spart Geld, und das Paar denkt an Nachwuchs. Die beiden wohnen in einer Einzimmerwohnung, und Hana zögert nicht, als ihr Ehemann sie bittet, ihm finanziell beim Start eines neuen Geschäfts (damals schon als Taxifahrer) zu unterstützen. Kurz darauf ist Hana schwanger und das Geschäft bankrott. Der Briefträger händigt Hana eine Betreibungsandrohung aus: «So erfuhr ich, dass mein Mann hoch verschuldet war.» Als die Wehen einsetzen, wohnt das Paar noch immer in einem Zimmer. Thomas macht das Unmögliche möglich und organisiert eine grössere Wohnung. «Als ich die Wohnung sah, verzweifelte ich», sagt Hana heute: Die Miete war zwar tief, aber das bedeutet null Komfort. Thomas fährt wieder Taxi, und Hana bleibt mit dem Baby allein im kalten Zuhause.

Isoliert und wenig Abwechslung

Die folgenden Jahre arbeitet Hana tagsüber und Thomas nachts. «So mussten wir keine Kinderkrippe bezahlen.» Die finanzielle Situation bleibt angespannt, und die Familie hat keine Zeit, die sie gemeinsam verbringt. «Wir kamen einfach keinen Schritt weiter», sagt Hana, die in ihrem neuen Heimatland innert 14 Jahren nur die Stadt kennengelernt hat, in der sie wohnt. Streit prägt den Alltag der Familie, deren Leben auf die eigenen vier Wände beschränkt ist. Nur in einem sind sich beide einig: Gina soll auf nichts verzichten. Einmal im Jahr fährt Hana für eine Woche in ihr Herkunftsland. Sie schämt sich, dass ausgerechnet sie, die in die reiche Schweiz auswanderte, am wenigsten hat. Geschwister und Verwandte bauten Häuser und besitzen Autos. Hanas Schwester finanziert den hohen Lebensstandard ihrer Familie, indem sie jeweils für drei Monate in der Schweiz als private Pflegerin arbeitet. Hana sagt: «Ich würde nie jemanden zu mir nach Hause einladen, ich will nicht, dass sie wissen, wie einfach wir leben.»

Ausbildung als Chance

Dass Hana vor einigen Jahren die Stelle verliert, erweist sich als Glücksfall. Der Berater des regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) setzt sich dafür ein, dass sie mit 39 Jahren eine Ausbildung zur Dentalassistentin beginnen kann. Zurzeit leben Hana und Gina von 3500 Franken im Monat: 1200 Franken Lehrlingslohn, 1900 Franken Beiträge vom RAV und je 200 Franken Kinderzulagen und Alimente. Das Einkommen liegt an der durchschnittlichen Armutsgrenze, doch es reicht zum Leben. «Für mich kaufe ich nichts», sagt Hana, bei der Arbeit trägt sie die weisse Berufsbekleidung. Aber Gina fährt wie alle Kinder aus der Klasse mit dem Scooter zur Schule, geht zur Reitstunde und lernt ein Instrument. Hana nutzt Angebote wie die KulturLegi, die ihr ermöglichen, Lebensmittel billig einzukaufen.

Die Ausbildung und die ständig wechselnden Arbeitszeiten fordern sie sehr. Denn der Lehrbetrieb, eine Notfall-Zahnarztpraxis, ist jeweils von 8 bis 23 Uhr geöffnet. Doch Hana sagt, dass es ihr gut geht: Endlich hat sie sich von Thomas getrennt, und im Sommer hat sie den Lehrabschluss in der Tasche. Mit ihrem künftigen Lohn als Ausgelernte wird sie keine grossen Sprünge machen können, aber für das Abonnement im Fitnessstudio, das sie sich sehnlichst wünscht, wird er reichen.

*Name geändert.

Die Winterhilfe leistet in der ganzen Schweiz ganzjährig Unterstützung an im Land niedergelassene Familien, Einzelpersonen und Paare, die an der Armutsgrenze gemäss SKOS leben. Das spendenfinanzierte Hilfswerk übernimmt dringende Rechnungen, bezahlt Förderkurse für Kinder und gibt Naturalien wie Betten, Kleider und Schulausstattungen ab. www.winterhilfe.ch

Esther Güdel
Kommunikation, Winterhilfe Schweiz