Existenzsichernde Arbeit dank Bildung?
Die Anzahl Jobs für Geringqualifizierte ist in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen, weshalb diese Arbeitskräfte überdurchschnittlich oft von Prekarität und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die Hälfte der Sozialhilfe beziehenden Erwachsenen über keinen Berufsabschluss verfügt. Die Weiterbildungsoffensive der SKOS und des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB) zielt darauf ab, diese Personen über den Weg der Bildung nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren und somit deren Ablösung von der Sozialhilfe zu ermöglichen.
Erwerbschancen hängen jedoch nicht nur von den Arbeitskräften ab, sondern auch von institutionellen Bedingungen der Betriebe, der Branchen und des Staats. Geringqualifizierte arbeiten überwiegend in ausgesprochenen Tieflohnbranchen, und prekäre Anstellungsverhältnisse sind weitverbreitet. Das heisst jedoch nicht, dass Geringqualifizierte zwingend von einer prekären Erwerbslage betroffen sind. Eine Studie zur Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitskräften ohne Ausbildung findet auch stabile Laufbahnen und Aufstiegskarrieren (vgl. Kasten).
Nicht zwingend prekär
Stabile Erwerbsverläufe zeichnen sich durch wenige unfreiwillige Stellenwechsel mit rascher Anschlusslösung aus. Solche Verläufe sind bei Personen typisch, bei denen arbeitsinhaltliche Aspekte nicht an vorderster Stelle stehen. Weil Privatleben und Familie wichtiger sind, sind die Ansprüche an den Job tief, und es werden auch unattraktive Stellen akzeptiert. Dies ist zwar einer stabilen Laufbahn zuträglich, hat aber auch zur Folge, dass kaum Weiterbildungen besucht werden. Kompetenzen bleiben daher stark betriebsgebunden und lassen sich bei einem Stellenverlust kaum transferieren. Informelles Lernen während und neben der Arbeitszeit sowie formale Weiterbildungen spielen hingegen eine wichtige Rolle für Aufstiegskarrieren. Ein Aufstieg in eine Position mit mehr Verantwortung und Lohn verlangt viel Zeit und Engagement, kommt aber nur selten ohne die Unterstützung durch den Arbeitgeber zustande. Weil entsprechende Arbeitsplätze (z.B. Leitungspositionen) dünn gesät sind, werden allerdings nur wenige Geringqualifizierte von ihren Arbeitgebern unterstützt.
Eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des Erwerbsverlaufs spielen Umstände, die ausserhalb des Arbeitsmarktes liegen. Ein Aufstieg bedingt, dass Zeitressourcen zur Verfügung stehen. Care-Verpflichtungen, die nach wie vor grösstenteils von Frauen getragen werden, können einen Aufstieg somit verhindern. Zeitliche oder räumliche Einschränkungen können aber auch stabile Laufbahnen verunmöglichen, weil z.B. Jobs mit unregelmässigen Arbeitszeiten nicht infrage kommen.
Auslöser von Prekarität
Prekäre Erwerbsverläufe werden besonders häufig durch Gesundheitsprobleme ausgelöst. Der Körper stellt für die zumeist physisch belastenden Jobs im Segment der geringqualifizierten Arbeit eine unerlässliche Ressource dar. Steht diese Ressource nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung, bedeutet dies häufig prekäre Teilzeitbeschäftigung oder den Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt.
Bildung auf unterschiedlichen Niveaus ist für die Arbeitsmarktchancen dieser Personen durchaus wichtig. Obwohl für viele Jobs für Geringqualifizierte nur tiefe Anforderungen an die Beherrschung der Sprache oder den Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien gestellt werden, sind diese Kompetenzen für die Teilnahme an Weiterbildungen unerlässlich. Sprach- oder Computerkurse sind jedoch nur der Anfang eines langen Weges. Zwar gibt es mittlerweile verschiedene sogenannte Branchenzertifikate (z.B. Wetrok-Reinigungskurse, Progresso-Gastronomiekurse), die im Vergleich zu einer dreijährigen Lehre mit überschaubarem Aufwand erlangt werden können. Diese Zertifikate bergen allerdings das Risiko, dass durch steigende Anforderungen der Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt erhöht wird. Weiterbildungen unterhalb eines Lehrabschlusses bauen zudem häufig auf Arbeitserfahrung auf und ermöglichen daher keine Umorientierung auf dem Arbeitsmarkt. Sofern sich aber an den Auslösern eines prekären Verlaufs nichts ändert, ist es ohne Umorientierung kaum möglich, eine sichere Anstellung zu finden.
Unsichere Jobs
Mit Bildung kann zwar die Situation von Einzelnen verbessert werden, das Problem der Prekarität wird damit jedoch nicht gelöst. Insbesondere im Bereich der gering qualifizierten Arbeit sind Betriebe nicht nur an einer stabilen Belegschaft interessiert, die einen zuverlässigen Betrieb ermöglicht, sondern auch an prekären Beschäftigungsverhältnissen, die als Puffer für saisonale und konjunkturelle Schwankungen dienen. Für die Betroffenen bedeuten flexible Personalstrategien in der Form von Temporärarbeit oder Arbeit auf Abruf in erster Linie Unsicherheit. Aber auch stabil Beschäftigte müssen sich mit Tieflöhnen zufriedengeben und bleiben daher Working Poor.
Es ist begrüssenswert, dass mit der Weiterbildungsoffensive von der kurzfristigen Aktivierungslogik der Arbeitsintegration Abstand genommen wird. Möglichst schnell einen Job zu finden, bedeutet für gering qualifizierte Stellensuchende, dass sie sich mit den unsicheren Anstellungsbedingungen abfinden müssen, die für das hohe Arbeitslosigkeitsrisiko dieser Arbeitskräfte mitverantwortlich sind. Um die prekären Anstellungsverhältnisse in den Griff zu bekommen, reicht es jedoch nicht, in die Qualifikation von Einzelnen zu investieren.
Nicht ohne Regulierung
Nicht nur um die Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen, sondern auch damit die Existenzsicherungsfunktion der Arbeit sichergestellt werden kann, braucht es Regulierung. Eine wichtige Rolle kommt dabei den Sozialpartnern zu, die mit Gesamtarbeitsverträgen (GAV) die Situation von Geringqualifizierten beeinflussen können. GAV bieten auch das Potenzial, dass mittels Finanzierung und Organisation von Kursen der Zugang von Geringqualifizierten zu Weiterbildungen nahe am Arbeitsmarkt verbessert werden kann. Als positives Beispiel ist hier die Baubranche zu nennen, wo ein breites Kursangebot und entsprechende Aufstiegsmöglichkeiten auch Arbeitskräften ohne Lehrabschluss offenstehen.
Existenzsichernde Löhne sind jedoch auch in Branchen mit GAV nicht immer gegeben, und ohne effektive Kontrollen besteht die Gefahr, dass Betriebe die vereinbarten Regelungen nicht einhalten. Ohne Mindestlöhne und greifende Kontrollen kann das Problem von prekären Anstellungsverhältnissen und Tieflöhnen daher kaum gelöst werden. Es zeigt sich also, dass es Bildung und Regulierung braucht, damit die Arbeitsmarktsituation von Geringqualifizierten nachhaltig verbessert werden kann.
Beschäftigungsfähigkeit von Geringqualifizierten
Dieser Beitrag beruht auf einer Langzeitstudie zur Beschäftigungsfähigkeit von gering qualifizierten Arbeitskräften, die an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW durchgeführt wird. Für die Studie wurden Interviews mit 39 Geringqualifizierten geführt, wovon ein Teil ein zweites bzw. drittes Mal befragt werden konnte. Zudem wurden Interviews in 27 Betrieben, 3 Temporärbüros, mit Leuten von 2 Integrationsprogrammen sowie mit 3 Mitarbeitenden eines RAV durchgeführt. Mehr Informationen zum Projekt finden Sie