Prof. Dr. Anne Parpan-Blaser ist Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und Mitautorin «Leichte Sprache – Grundlagen, Diskussionen und Praxisfelder» des 2024 erschienenen Buches. Der Band behandelt Grundlagen und Bedeutung der Leichten Sprache, zeigt aktuelle Diskurse auf und widmet sich der Implementierung Leichter Sprache in verschiedensten gesellschaftlichen Feldern. Parpan-Blaser leitete zusammen mit Paloma López Grüninger an der FHNW das Projekt «Durchblick – visuelle Kommunikation für Beratungsgespräche der Sozialhilfe».
Nachgefragt

«Es wird ganz oft an den Adressatinnen und Adressaten vorbeikommuniziert.»

27.08.2024
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Behördensprache ist oft schwer verständlich und erschwert den Zugang zu Information über Rechtsansprüche. Eine Möglichkeit, Abhilfe zu schaffen, ist die Leichte Sprache. In der Schweiz wird auf diesem Gebiet noch zu wenig getan, sagt Anne Parpan-Blaser, Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

ZESO: Auf vielen Websites sieht man den Linkbutton für Texte in Leichter Sprache. Wird inzwischen genug getan, damit alle Menschen Zugang zu den Informationen haben, die sie brauchen?

Anne Parpan-Blaser: In der Schweiz wird sicher noch nicht genug getan. Im Schattenbericht von Inclusion Handicap zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wird 2022 festgehalten, dass im Bereich der Kommunikation und Information noch sehr viele Barrieren bestehen. Während der Bund verpflichtet ist, Zugänglichkeit sicherzustellen, gilt dies für Kantone, Gemeinden und private Anbieter – noch – nicht. Zugänglichkeit ist auch eine Frage der Verständlichkeit von Sprache. Es ist immer eine individuelle Frage, was ich brauche, um meine Rechte und Pflichten als Bürgerin wahrnehmen zu können. Als Einzelperson kann das Recht auf verständliche Information aber nicht eingeklagt werden, weil die Schweiz das Zusatzprotokoll zur UN-Behindertenrechtskonvention nicht unterzeichnet hat. Es gibt eine Reihe von Initiativen zur Leichten Sprache in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, aber sie zeigen noch keine umfassende Wirkung, weil sie immer abhängig sind von engagierten Einzelpersonen, von engagierten Teams, von engagierten Gemeindeverwaltungen oder Organisationen. Damit bleiben die Massnahmen sehr punktuell.

Was sind das für Menschen, die unter der schwierigen Behördensprache leiden?

Die Zielgruppe der Leichten Sprache ist sehr breit. Es sind im Grunde alle Personen, die vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Lese- und Verstehenskompetenz eingeschränkt sind. Das können Personen sein, die einen Schlaganfall hatten oder die als Zugezogene eine der Landessprachen lernen. Es können Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung sein. Es können Menschen sein mit Sehbehinderungen, Menschen, die mit zunehmendem Alter Verständigungs- oder Wahrnehmungsschwierigkeiten haben. Es geht auch um Menschen mit geringem Bildungsniveau, Menschen in Belastungs- oder Notsituationen. Wir alle können in eine dieser Situationen kommen.

Wenn Menschen Verständnisprobleme haben, könnte damit auch der Zugang zu Diensten oder Gütern erschwert werden?

Das ist so. Eine Studie aus Deutschland zeigt: Behörden gehen meistens von einem zu hohen Sprachniveau ihrer Adressaten

aus. In der Regel gehen sie vom C1-Niveau gemäss dem europäischen Referenzrahmen für Sprachen aus; er unterscheidet

Sprachniveaus von A1 bis C2. Etwa 70 Prozent der Personen, die die Unterlagen lesen, haben aber ein tieferes Sprachniveau

und verstehen den Text nicht oder nur schlecht. Das heisst, es wird ganz oft an den Adressatinnen und Adressaten vorbeikommuniziert – das gilt auch für die Schweiz. Wenn ich also beispielsweise für den Antrag auf Sozialhilfe schwer verständliche

Informationen erhalte, stellt sich die Frage, ob ich diese dann noch nachvollziehen kann, wenn ich zu Hause bin und für den Antrag Unterlagen zusammenstelle, Nachweise erbringen muss usw.

Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich in Sozialdiensten gemacht?

Für das Projekt Durchblick* haben wir viele Gespräche bei Sozialdiensten hospitiert und auch die Unterlagen und Dokumente untersucht, die im Rahmen der Gespräche abgegeben wurden. Es war einerseits auffällig, dass es sehr viele Unterlagen sind und andererseits, dass diese sehr komplexe Sachverhalte betreffen, zum Beispiel die Subsidiarität der materiellen Sozialhilfe. Weiter fiel auf, dass es den Unterlagen zum Teil an Systematik fehlt, sie nicht aufeinander aufbauen, sich nicht aufeinander beziehen. Auch das Layout ist oft nicht unterstützend, um sich leichter in den Erklärungen zurechtzufinden. Das Material ist für Personen geeignet, die in der Schweiz aufgewachsen sind, gute Sprachkenntnisse haben, das Sozialhilfesystem kennen und mit administrativen Abläufen vertraut sind.

Wie sieht es mit den mündlichen Erklärungen durch die Beratenden aus? Können die nicht helfen?

Wir haben gemerkt, dass die Sozialarbeitenden viel investieren, um die Informationen verständlich zu machen und sie zu übersetzen. Aber ein Gespräch ist flüchtig, Klienten machen meist keine Notizen. Dann fragt sich, ob sie zu Hause noch wissen, was das Wichtigste war, was jetzt zu tun ist. Haben sie verstanden, was ihre Rechte und Pflichten sind?

Was bräuchte es konkret?

Es bräuchte etwas, das die Gespräche begleitet, worauf man sich beziehen kann. Damit die Betroffenen zu Hause mit ihrer Familie, Angehörigen oder Bekannten noch einmal ansehen können, was vorher besprochen wurde. Aber es reicht nicht, einzelne Dokumente in Leichte Sprache zu übertragen. Es bräuchte ein Kommunikationskonzept, das festhält, wie solche Elemente eingebettet sind, und Leitlinien festlegt, wie ein Sozialdienst mit Adressaten kommuniziert.

Welche Konzepte empfehlen Sie? Was sind die zentralen Massnahmen, um die Kommunikation zu verbessern?

Es gibt verschiedene Ansätze. Bald wird eine DIN-Norm zu Leichter Sprache erscheinen. Dort ist sehr detailliert beschrieben, wie man in Leichter Sprache formuliert oder wie man Texte, die schon vorliegen, in Leichte Sprache überträgt. Auch die Vereinigung Inclusion Europe stellt Leitlinien oder Standards zur Verfügung. Eine andere Entwicklungslinie zur Vereinfachung der deutschen Sprache sind sogenannte Angemessenheitsfaktoren: Passt der Text eigentlich in den Kontext, in dem er eine Funktion hat? Ist er ausreichend einfach? Ist er ausreichend kurz? Hat er eine klare Ordnung? Macht er Lust aufs Lesen, oder ist er eine Buchstabenwüste?

Es gibt auch Kritik an der manchmal etwas kindlichen Gestaltung von Texten in Leichter Sprache. Das betrifft insbesondere die Illustrationen.

Das ist so. Die Wahl der Bildsprache ist manchmal nicht dem Publikum angemessen, das sie ansprechen soll. Im Übrigen ist die Annahme falsch, dass Bilder immer zur Verständlichkeit beitragen. Auch Bilder müssen verstanden werden bzw. man muss auch Bilder lesen können.