Putzjob trotz Doktortitel: die Angst vor Sozialhilfe und der damit einhergehenden Abschiebung.
Schwerpunkt

Erfahrungen von Menschen zwischen Aussteuerung und Sozialhilfe

05.06.2023
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Die Grenzen zwischen Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe sind heute nicht mehr starr. 2021 waren in Neuenburg 66 Prozent der Sozialhilfeempfänger erwerbstätig oder auf Arbeitssuche. Viele Arbeitslose, die sich bei der Vereinigung für Arbeitslose «Association de défense des chômeurs Neuchâtel» (ADCN) melden, hatten bereits vor dem Auslaufen ihrer ALV-Ansprüche Sozialhilfe in Anspruch genommen, entweder weil ihnen Geld fehlte, weil gegen sie Sanktionen infolge Zuwiderhandlungen gegen das Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) verhängt wurden oder weil sie in prekären Beschäftigungsverhältnissen angestellt waren und zu wenig verdienten. Ein Erfahrungsbericht der ADCN.

Die Aussicht, auf das letzte soziale Netz zurückgreifen zu müssen, ist für die meisten Betroffenen beängstigend. Diese Angst ist bereits in den Köpfen vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorhanden, die sich von Arbeitslosigkeit bedroht fühlen, und sie steigt noch um ein Vielfaches, wenn sie arbeitslos werden. Sie wirkt sich zudem bereits auf die Arbeitsverhältnisse und das Engagement aus, das Arbeitslose bei der Arbeitssuche an den Tag legen. Sie wird als unausgesprochene Drohung eingesetzt, damit die Arbeitslosen ihre Arbeitslosigkeit so schnell wie möglich beenden, um den Schaden für die Versicherung zu verringern. In der Arbeitslosenvereinigung ADCN sind auch viele Menschen, die bereit sind, prekäre Arbeitsverhältnisse beizubehalten oder anzunehmen, um auf keinen Fall «in die Sozialhilfe zu fallen».

«Ich habe Angst, dass ich, wenn ich einmal bei der Sozialhilfe angekommen bin, nie wieder herauskomme!» 

Carolina*, 56 Jahre

«Ich habe Angst, dass ich aus der Schweiz abgeschoben werde. Ich wüsste nicht, wohin ich gehen sollte, und meine Tochter kennt nichts anderes als dieses Land. Sie würde es nicht verstehen. Also gehe ich putzen, obwohl ich einen Doktortitel in Naturwissenschaften habe.»

Nadja*, 46 Jahre

Im Gespräch mit diesen Menschen wird klar, dass die Angst, die sie überkommt, oft irrational ist. Dennoch stehen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter diesen Reaktionen oft hilflos gegenüber, da diese Ängste auch berechtigt sind und man aus ethischen Gründen nicht versprechen kann, dass es nicht so enden wird!

Das Stigma der Arbeitslosigkeit ist bei den Menschen, die zur Arbeitslosenvereinigung ADCN kommen, bereits vorhanden. Man kann sich also vorstellen, wie beschämt sie sich fühlen, wenn sie auf Sozialhilfe zurückgreifen müssen.

«Ich war 18 Monate lang arbeitslos, und als ich ausgesteuert wurde, musste ich zum Sozialdienst gehen. Für mich war das das Ende der Welt. Es war eine Schande, ich wollte absolut nicht beim Sozialamt sein, weil ich dachte, dass das nur für Asoziale ist. Ich wollte nicht zu diesen Leuten gehören! Ich wollte nicht, dass man mich beim Betreten des Gebäudes sieht, ich wollte nicht, dass jemand das weiss.»

Lorena*, 62 Jahre

«Ich bin kein Asozialer, auf Französisch ‹cassos›.» Der Ausdruck ‹cassos›, der in die französische Alltagssprache eingegangen ist, bezeichnet eine verwirrte, dumme, unkonventionelle Person oder Deutsch umgangssprachlich einen «Asi». Es ist kein Zufall, dass sich dieser Begriff, der früher eine prekäre Situation bezeichnete, in eine Beleidigung verwandelt hat. Häufig wird er von ausgesteuerten Arbeitslosen als solcher aufgefasst. Sie fühlen sich beleidigt und gedemütigt und sind Opfer ihrer eigenen Vorurteile.

«In den Zeitungen steht, dass die Arbeitslosigkeit historisch niedrig ist und dass nur eine Minderheit keine Arbeit findet. Ich kann es nicht mehr ertragen, Teil der Minderheit zu sein, ich will wie alle anderen sein.»

Joe*, 46 Jahre

Dieses Gefühl wird noch verstärkt, wenn sie erst einmal in der Sozialhilfe angekommen sind. Der Staat dringt – wie bei Kriminellen – in ihre Privatsphäre ein und verlangt Rechenschaft von ihnen. Mit wem leben Sie zusammen? Wie viel Geld befindet sich auf Ihrem Bankkonto? Kann sich Ihr Kind, das eine Lehre absolviert, an den Haushaltskosten beteiligen? Auch wenn es verständlich ist, warum eine Untersuchung über die Person, die Sozialhilfe beantragt, durchgeführt werden muss, um ihr eine staatliche finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, bleibt dieser Prozess dennoch entwürdigend. Die Betroffenen erleben diesen Übergang als eine Bevormundung, die sie ihrer Intimsphäre beraubt und ihre Handlungsfähigkeit einschränkt. Sie fühlen sich einem Staat und einem System ausgeliefert, auf das sie keinen Einfluss haben und gegen das sie sich nicht wehren können.

«Als ich Sozialhilfe beantragte, war das ein echter Schock! Als ob man mir meine Würde genommen hätte.»

Carolina*, 56 Jahre

«Als ich zur Sozialhilfe kam, war ich so deprimiert, dass ich nicht mehr auf mein Bankkonto schaute. Nach ein paar Monaten überprüfte ich es und stellte fest, dass die Sozialhilfe vergessen hatte, mir Geld zu überweisen. Als ich meine Sozialarbeiterin darüber informierte, sagte sie mir, dass sie mir das Geld nicht auszahlen werde, da ich es ja geschafft hätte, ohne das Geld zu leben! Ich schrieb an die Geschäftsleitung, die mir mitteilte, dass die Sozialhilfe nicht rückwirkend zahle. Ich fühlte mich wie ein Nichts, als ob ich keine Rechte mehr hätte».

Lorena*, 62 Jahre

Wir treffen auch auf Menschen, die sich nie hätten vorstellen können, Sozialhilfe in Anspruch nehmen zu müssen, z.B. nach einer Scheidung oder während der Covid-19-Krise. Es handelt sich um Bürgerinnen und Bürger, die in einem gewissen materiellen Komfort gelebt hatten, ohne besondere finanzielle Sorgen, und die nun mit voller Wucht von der Prekarität getroffen werden. Sie sind schockiert, wenn sie feststellen, dass sie, bevor sie Hilfe erhalten, ihre gesamten Ersparnisse auflösen und beweisen müssen, wie bedürftig sie sind. Auch sie sind Opfer der allgemein weitverbreiteten Vorurteile, wenn sie glauben, dass Sozialhilfe an jeden, der sie beantragt, grosszügig verteilt wird.

Es gibt auch das schreckliche Gefühl der Ungerechtigkeit bei denjenigen, die hoch qualifiziert sind und folglich nicht in der Sozialhilfe landen sollten. Die guten Schüler, die lange studiert haben, die fleissig an Arbeitslosenschulungen teilgenommen haben und mehrere Sprachen sprechen ... Sie fühlen sich von einer Gesellschaft betrogen, die Abschlüsse und Ausbildung wertschätzt, ihnen aber keine Chancen bietet und ihre Versprechen nicht einhält.

«Ich war wütend! Als meine akademische Laufbahn nach meiner Postdocprüfung unterbrochen wurde, schlossen sich alle Türen. Dabei hatte ich alles getan, was von mir erwartet wurde.»

Nadja*, 46 Jahre

Einsamkeit, Isolation und Depressionen sind Realitäten, denen Sozialarbeitende bei ADCN jeden Tag begegnen. Diese Probleme der ausgesteuerten Arbeitslosen schwächen sie, lassen sie ihr Selbstvertrauen verlieren und nagen stetig an ihnen.

Zur Arbeitslosenvereinigung ADCN kommen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, und ihre Reaktionen auf die Sozialhilfe sind nicht einheitlich. Manche sind erschüttert oder fatalistisch, andere sind daran gewöhnt, aber anders als bei Arbeitslosigkeit sagt nie jemand: «Ich habe Anspruch darauf.» Für sie bleibt Arbeitslosigkeit ein Recht, und man bleibt würdig, wenn man seine Rechte geltend macht, während die Inanspruchnahme von Sozialhilfe einer Wohltätigkeit gleichkommt, die einen in eine unterlegene Position bringt und einem die Würde nehmen kann.

Als Bollwerk gegen solche Situationen hat die ADCN die Solidarität gewählt, in der Hoffnung, wieder soziale Bindungen zwischen Menschen herzustellen, die sich isoliert oder verlassen fühlen. Jede Woche unterstützen Freiwillige, die davon überzeugt sind, dass es notwendig ist, sich gegenseitig zu helfen, diejenigen, die Hilfe benötigen, und bringen ein wenig Menschlichkeit dorthin, wo sie dringend benötigt wird.

Auch wenn die finanzielle Frage natürlich von entscheidender Bedeutung ist, darf sie nicht dazu führen, dass alle anderen Überlegungen in Vergessenheit geraten. In einem Land, in dem so viele Menschen reich sind und die Lebenshaltungskosten hoch sind, mit dem Nötigsten zu leben, isoliert. Arm zu sein, erfordert viele Ressourcen und Energie. Arbeitslose, die ausgesteuert werden, scheinen oft darauf vorbereitet, mit wenig Geld auszukommen. Das System D ist bereits vorhanden, und es gibt viel Solidarität in Bezug auf die Grundbedürfnisse.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ADCN sind immer wieder überrascht, wie kreativ und belastbar diese Menschen trotz allen Widrigkeiten sind. Indem sie sich kostenlos bei der ADCN anmelden können, so wie sie sind, und sie dort ohne Kostenfolgen Gehör finden, schenken sie ihr Vertrauen und ermöglichen, wie wir sie besser begleiten können.

*Namen geändert.