Die Sozialhilfe wird instrumentalisiert und das System der sozialen Sicherheit geschwächt
Realpolitik oder feindliche Übernahme: Der Bundesrat schlägt auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts eine Verschärfung gegenüber Drittstaatsangehörigen vor, die Sozialhilfe beziehen. Diese Revision des Ausländerrechts hat erhebliche Auswirkungen auf das letzte Netz der sozialen Sicherheit, eine der wichtigsten Stützen des sozialen Friedens und Zusammenhalts in der Schweiz. Es ist ein Fehler, die Sozialhilfe zu nutzen, um die Migrationspolitik zu beeinflussen.
Am 1. Januar 2021 trat die angepasste «Verordnung des Bundes über die dem Zustimmungsverfahren unterliegenden ausländerrechtlichen Bewilligungen und Vorentscheide» in Kraft. Die Revision der Verordnung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) ist eine aus einer Reihe von Massnahmen, die zum Ziel hatten, den Bezug von Sozialhilfe von Drittstaatsangehörigen zu erschweren.
Mit der Möglichkeit des Widerrufs einer Aufenthaltsbewilligung für Drittstaatsangehörige, die in den drei Jahren vor Ablauf ihrer Aufenthaltsbewilligung Sozialhilfeleistungen in Höhe von 50 000 Franken für Alleinstehende oder 80 000 Franken für Mehrpersonenhaushalte bezogen haben (Art. 4 Bst. g VV-EJPD) mischt sich der Bund in die Sozialhilfe ein. Der vorliegende Artikel diskutiert die Risiken, welche die Verantwortlichen der Sozialhilfe mit der revidierten Verordnung und den vorgeschlagenen Umsetzungsmöglichkeiten eingehen. Ein kritischer Blick ist vor allem deshalb notwendig, weil die Verschärfung zwar im Ausländerrecht verankert ist, die Umsetzung aber eine aktive Beteiligung der Sozialdienste voraussetzt.
« Für jedes komplexe Problem gibt es eine Lösung, die sauber, einleuchtend, und falsch ist.»
Die Sozialhilfe ist das letzte Netz in unserem System der sozialen Sicherheit. Entsprechend dem Prinzip der Subsidiarität kann sie erst dann in Anspruch genommen werden, wenn alle anderen Möglichkeiten des Sozialversicherungssystems abgeklärt wurden. Die Leistungen der Sozialhilfe bestehen zum einen aus finanzieller Unterstützung und zum anderen aus der Begleitung bei Massnahmen zur sozialen und/oder beruflichen Eingliederung. In diesem Sinne ist die Sozialhilfe ein fundamentales Bindeglied im Kampf gegen Ausgrenzung und Armut und trägt direkt zu sozialem Frieden und Zusammenhalt in unserem Land bei.
Die Sozialhilfe liegt in der Schweiz in der Verantwortung der Kantone oder Gemeinden. Die Leistungen werden von Fachleuten erbracht, die mit fundiertem Fachwissen helfen, die Situation von Menschen mit schwerwiegenden Problemen wie Armut, Gewalt, Ausgrenzung usw. zu verbessern. Um die Kosten in diesem Bereich einzudämmen, wurde in den letzten zwanzig Jahren jedoch ein umfangreicher Satz an Verwaltungs- und Kontrollmassnahmen entwickelt. Sozialarbeitende werden dadurch heute zunehmend in die Rolle des Verwalters gedrängt, anstatt aktiv Veränderungen herbeiführen zu können. Diese strukturelle Entfernung vom Kerngeschäft ist angesichts der immer komplexer werdenden psychischen und sozialen Schwierigkeiten der Antragsteller ein nicht zu unterschätzendes Problem. Die neuen EJPD-Bestimmungen, die am 1. Januar 2021 in Kraft getreten sind, verstärken diese Tendenz weiter. Bei der Umsetzung der Bestimmungen ergeben sich für die Sozialdienste drei Hauptprobleme:
1. Informationsaustausch vs. Vertrauensverhältnis
Die in Kraft getretenen Änderungen erfordern einen obligatorischen Informationsaustausch zwischen den Sozial- und den Migrationsbehörden. Während dies in anderen Situationen ebenfalls bereits üblich ist (Betreibungs- und Konkursamt, Steueramt, Migrationsamt usw.), geht die hier vorgesehene Verpflichtung aber noch einen Schritt weiter. Denn die Sozialdienste müssen nun die übermittelten Informationen kommentieren und eine Einschätzung zu den betreffenden Fällen abgeben. Das ist nicht unproblematisch. Sozialarbeit beruht auf dem Aufbau einer Vertrauensbeziehung, und diese ist eine unabdingbare Voraussetzung, um eine wirksame Begleitung zu gewährleisten. Das Vertrauensverhältnis wird untergraben, wenn die betreute Person weiss, dass die ihr gegenübersitzende Sozialarbeiterin möglicherweise Informationen an die Migrationsdienste weitergibt, die ihr schaden könnten. Ebenso wird die Haltung der Fachleute beeinträchtigt, wenn sie wissen, dass die Informationen, die sie weitergeben müssen, die gesamte bisher geleistete Arbeit zur Eingliederung/Integration gefährden könnte.
Diese Situation wird zu zusätzlichen Spannungen in der Beziehung zwischen Klienten und Mitarbeitenden der Sozialdienste führen. Man darf nicht vergessen, dass die Sozialhilfe für viele Menschen das letzte Bindeglied ist, das sie noch an die Gemeinschaft bindet. Indem die Sozialhilfe eine würdige Existenz und eine mögliche Zukunft bewahrt, stützt das letzte Netz der sozialen Sicherheit die Brücke, die das Individuum und die Gesellschaft verbindet. Die Infragestellung des Vertrauensverhältnisses zwischen den zuständigen Fachleuten und den betreuten Personen schwächt die Arbeit der sozialen Betreuung erheblich und im weiteren Sinne auch den sozialen Zusammenhalt, der die Stärke unserer Gesellschaft ausmacht.
2. Zunahme des Nichtbezugs von Sozialhilfe
Der Nichtbezug von Sozialleistungen ist ein ernstes Problem, das sowohl in der Sozialarbeit als auch auf politischer Ebene immer stärker ins Bewusstsein rückt. Da es sich um ein nicht sichtbares Phänomen handelt, lässt es sich naturgemäss nur schwer in Zahlen fassen. Eine kürzlich durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass im Kanton Bern 26,3 Prozent der Personen, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, dennoch keinen Antrag stellen, in einigen Gemeinden sogar bis zu 50 Prozent. Die Gründe, die zum Nichtbezug führen, sind vielfältig, einer davon ist auch die Angst vor dem Verlust des Aufenthaltsrechts. Dies war bereits in einer Studie erwähnt worden, bevor die diskutierten Änderungen beschlossen wurden.
Es ist davon auszugehen, dass die Änderungen im Bereich der Ausländerrechte zu einer starken Zunahme des Nichtbezugs führen werden. Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass der Nichtbezug nicht unbedingt dauerhaft sein muss, sondern in bestimmten Fällen nur vorübergehend. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass viele Menschen versuchen werden, den Bezug von Sozialhilfe so lange wie möglich hinauszuzögern. Für einen schnellen Ausstieg aus der Sozialhilfe ist ein sorgfältiger Umgang mit der individuellen Situation ein Schlüsselfaktor. Doch werden die Sozialarbeitenden nun mit Problemen konfrontiert, deren Komplexität ohne die Verschärfung des Ausländerrechts hätte vermieden werden können. Letztlich könnte es sein, dass die Rechnung für die Allgemeinheit höher ausfällt, auch wenn einige Stimmen die Änderungen damit begründeten, dass sie die Sozialhilfekosten eindämmen.
3. Begleiten statt verfolgen
Sozialhilfe und Sozialarbeit basieren im Wesentlichen auf der Idee, Menschen in Schwierigkeiten zu begleiten und zu vertrauen. Manchmal ist jedoch auch das Sanktionieren Teil der Arbeit. Sanktionierung wird nur dann ein Thema, wenn die Betroffenen Verpflichtungen nicht einhalten, und zwar in Verbindung mit einer schuldhaften Handlung. In diesem Fall sind Drittstaatsangehörige jedoch nicht schuldhaft. Zwar ist der Anteil von Drittstaatsangehörigen in der Sozialhilfe höher als der von Schweizern oder EU/EFTA-Bürgerinnen und -Bürgern, doch sind sie dafür nicht verantwortlich. Das zeigen die Beschäftigungsstatistiken des Bundesamts für Statistik und des SECO. Die Beschäftigungsstruktur zeigt, dass Drittstaatsangehörige viel häufiger in ungelernten Berufen und in prekären Branchen wie dem Gastgewerbe beschäftigt sind. Beispielsweise üben rund 17 Prozent der Erwerbstätigen aus Drittstaaten einen «Elementarberuf» aus, während es bei den Schweizern nur 3,5 Prozent und bei den EU-/EFTA-Bürgern 8,5 Prozent sind. Diese prekäre Beschäftigungssituation spiegelt sich auch in der Arbeitslosenstatistik wider. Während die Arbeitslosenquote bei Schweizern bei etwa 3,5 Prozent liegt, steigt sie bei Drittstaatsangehörigen auf etwa 13 Prozent. Die Beschäftigung erfüllt somit ihre Funktion als Schutz vor prekären Arbeitsverhältnissen für diese Personen weniger gut.
Darüber hinaus ist das Bildungs- und Qualifikationsniveau einer der Hauptfaktoren für Prekarität und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Es ist jedoch erwiesen, dass Drittstaatsangehörige ein wesentlich niedrigeres Qualifikationsniveau haben als der Rest der Bevölkerung. So haben 32 Prozent der Drittstaatsangehörigen ein Bildungsniveau, das nicht über die obligatorische Schule (Sekundarstufe 1) hinausgeht, während nur 10 Prozent der Schweizer und 20 Prozent der EU-/EFTA-Staatsangehörigen dieses Niveau haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Drittstaatsangehörige in der Sozialhilfe überrepräsentiert sind.
Der politische Wille, den Zugang zur Sozialhilfe einzuschränken oder zu verhindern, obwohl die Personen nicht unbedingt etwas falsch gemacht haben, verschlechtert die Situation nur noch weiter. Es ist auch wichtig, daran zu erinnern, dass Personen, deren Aufenthaltstitel annulliert und deren Wegweisungsentscheid gefällt wurde, oft noch mehrere Jahre in der Schweiz bleiben. Diese Personen haben somit keine Aufenthaltsgenehmigung mehr und keine Möglichkeit zu arbeiten. Sie beziehen Sozialhilfe mit einem Mindestbetrag, der als «Nothilfe» bezeichnet wird » (je nach Kanton etwa 300 Franken pro Person). Dies kostet die Allgemeinheit indirekt extrem viel Geld. Dieser Ansatz der Migrationspolitik ist diskriminierend und verunmöglicht ferner, dass die Sozialarbeitenden eine Begleitung für eine wirksame sozioprofessionelle Wiedereingliederung aufbauen. Hierfür sind qualifizierende Schulungen weitaus effektiver als Sanktionen.
Instrumentalisierung der Sozialhilfe für fremde Zwecke
Die sozioökonomischen Schwierigkeiten und die eingeschränkten Möglichkeiten der Integration eines Teils der Bevölkerung aus Drittstaaten stellen die meisten europäischen Länder vor eine Herausforderung. Dieses Thema ist umso komplexer, als es zu einer Verflechtung wichtiger öffentlicher Politikbereiche kommt: Migration, Soziales und Wirtschaft. Das Gleichgewicht zwischen den Zielen dieser Politiken ist nicht einfach zu finden, umso mehr, als die Zuständigkeiten in diesem Bereich auf verschiedene Ebenen verteilt sind. Leider hat man sich dafür entschieden, die Sozialhilfe für Zwecke zu instrumentalisieren, die nicht in ihren Bereich fallen, nämlich die Migrationskontrolle. Das ist ein Fehler, der dem sozialen Zusammenhalt zuwiderläuft. Unter keinen Umständen sollte die Sozialhilfe durch einen Verwaltungsentscheid im Bereich des Ausländerrechts beeinflusst werden. In einer Schweiz, die sich auf humanistische Werte beruft, muss der Bereich der Sozialhilfe, dessen Aufgabe es ist, die Würde von Menschen in prekären Situationen zu gewährleisten, bewahrt und nicht zugunsten der Regulierung der Migrationsströme geschwächt werden.
Referenzen
Verordnung des EJPD über die dem Zustimmungsverfahren unterliegenden ausländerrechtlichen Bewilligungen und Vorentscheide:
Rundschreiben des SEM : Erläuterungen mit allgemeinen Ausführungen zur Sozialhilfe und zur Zustimmungspflicht beim Bezug von Sozialhilfe nach der Verordnung des EJPD über das ausländerrechtliche Zustimmungsverfahren 2. Februar 2021.
Parlamentarisiche Inititiative 21.454 (Ada Marra) «Damit die Anspruchsvoraussetzungen für die Sozialhilfe und die Folgen des Sozialhilfebezugs nicht zusätzlich zur Verarmung beitragen» ;
Interpellation 21.4650 (Christian Dandrès) «Kann "jestime.ch" mit Unterstützung des Bundes auf die ganze Schweiz ausgeweitet werden?»
Hümbelin O., 2019, «Non-take-up of social assistance: regional differences and the role of social norms in Swiss Journal of Sociology», 45 (1), pp.7-33.
Lucas B. & al., 2019, Le non-recours aux prestations sociales à Genève. Quelles adaptations de la protection sociale aux attentes des familles en situation de précarité ?, Rapport de recherche, Hautes Ecole de Travail Social, Genève.