Die Sozialberatung Winterthur begegnet dem Fachkräftemangel mit innovativen Ideen
Die Sozialberatung Winterthur hat eine Reihe von Massnahmen auf den Weg gebracht, mit dem Ziel, personelle Vakanzen zu vermeiden, neben Studienabsolvierenden auch erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und sie längerfristig an Bord zu behalten sowie eine attraktive Arbeitgeberin zu sein. Eine hohe Fluktuationsrate, schwierige Personalakquise und in der Folge längere Vakanzen hatten ein entschlossenes Handeln nötig gemacht.
«Wie geht es Dir?» fragt Andreas Dvorak eine der vier Sozialarbeiterinnen, die am Tisch sitzen. «Ich bin letzte Woche aus den Ferien zurückgekehrt und die Menge an Mails waren ein Schock. Ausserdem haben wir gerade viele Absenzen, so muss ich auch noch Stellvertretung übernehmen», berichtet Andrea. Die vier Sozialarbeiterinnen – normalerweise sechs aber zwei mussten sich heute abmelden – sind neu in der Sozialberatung für wirtschaftliche und persönliche Hilfe der Sozialen Dienste Winterthur angestellt.
Katharina berichtet, sie würde gerne Kontakt mit den jungen Erwachsenen unter ihren Klienten aufnehmen. Sie hat das Gefühl, sie sollte dort mehr tun. Doch dann kommen die Alltagsgeschäfte, dringende Leistungsentscheide, «viele blaue Mäppli» müssen abgearbeitet werden. «Dann gerät das Vorhaben wieder auf die lange Bank.» Andreas Dvorak hört zu und gibt ein paar Handlungsempfehlungen ab. Er bereitet jeweils auch einen Input vor, diesmal geht es ums Zeitmanagement, ein Thema das für alle Anwesenden virulent ist. Das Treffen der Neuen mit Andreas Dvorak, einem externen Coach von anstellunghochzwei an diesem Donnerstagmorgen Ende Oktober ist Teil des Projekts Onboarding, mit dem Ziel, die Einarbeitungsphase für die Frischlinge möglichst gut zu gestalten (vgl. Text unten). Herausfordernde und teilweise belastende Themen wie Rollenfindung, Umgang mit Pendenzen, Fälle, Abgrenzung, etc. können in den 6-7 Treffen mit dem Coach im ersten Jahr der Anstellung wertungsfrei besprochen werden. Das Projekt unterstützt damit auch die Vernetzung und den Austausch der Neuen untereinander.
Das Projekt Onboarding wurde ins Leben gerufen, nachdem in der Sozialberatung bei den Sozialarbeitenden eine überdurchschnittliche Früh-Fluktuation (Austritte in den ersten zwei Dienstjahren) festgestellt wurde. Und zwar nachdem bei der Sozialberatung ab 2018 17.5 zusätzliche SozialarbeiterInnen Stellen bewilligt worden waren. Dies als Folge der zuvor im Pilotprojekt «Falllast» gewonnenen Erkenntnisse. Jede überhöhte Fluktuationsrate absorbiert Ressourcen und reduziert die Effizienz, sagt Martin Greter, Leiter einer der 5 Sozialberatungsabteilungen in Winterthur. Kommt hinzu, dass es infolge Fachkräftemangel schwierig ist, die offenen Stellen nahtlos zu besetzen und erfahrene Fachkräfte im Kontext der wirtschaftlichen Hilfe zu finden. Der Grossteil der offenen Stellen werde daher mit Studienabgängerinnen und -abgängern besetzt.
Verlust von Wissen und Vertrauensarbeit
Mit jedem Weggang eines Fachmitarbeitenden gehe Wissen zur Fallarbeit und über die einzelnen Klientinnen und Klienten verloren, so Martin Greter. Jede vermeidbare Kündigung, , ist ein bedeutender Ressourcenverlust. Einerseits für die Klientinnen und Klienten, da die Beziehungs- und Vetrauensarbeit gegenseitig von neuem geleistet werden muss. Anderseits für die Organisation, da neue Mitarbeitende eingearbeitet werden müssen. Im Grunde können Sozialarbeitende nach dem Studium erst nach ein- bis zwei Jahren Einarbeitungszeit ihr volles Potenzial zugunsten der anspruchsvollen Fallführungsarbeit ausschöpfen. Eine hohe Fluktuation schafft suboptimale Rahmenbedingungen für die Einarbeitung der neuen Mitarbeitenden. Ihre Erwartungen nach fördernden Rahmenbedingen während der anspruchsvollen Einarbeitungszeit können nur schwer erfüllt werden. Das zeigt,sich dann wiederum in der hohen Fluktuationsrate von erst seit wenigen Jahren angestellten Mitarbeitenden. Für die erfahrenen Mitarbeitenden führt dies zu einen erheblichen Mehraufwand aufgrund der Einarbeitung der neuen Mitarbeitenden.
Onboardingprozess für neue Sozialarbeitende
Aufgrund der hohen Früh-Fluktuation wurde das bestehende Einarbeitungs-Konzept und der bisherige Onboarding-Prozess analysiert und für zu theorielastig befunden. Der Einführungsprozess sollte daher verstärkt praxis- und anwendungsorientiert gestaltet werden. Das neue Einarbeitungsprogramm wurde konsequent auf das Ziel ausgerichtet, dass die neuen Sozialarbeitenden schnellstmöglich einen Beitrag an die Kernaufgabe – die Fallarbeit – leisten und operativ leistungsfähig werden. «Dies stärkt ein positives Gefühl, fördert die Motivation und die emotionale Integration», wie Martin Greter sagt. Bereits ab der ersten Woche ist die gezielte Einarbeitung in die Fallarbeit vorgesehen, indem in der Regel jeden Vormittag eine erfahrene Sozialarbeitende die Fallbearbeitung begleitet.
Neben dem Gruppencoaching in Form von Supervision mit externer Moderation muss eine intensivere Begleitung der Neuen sichergestellt werden. Damit die Einarbeitung von (oft unerfahrenen) neuen Mitarbeitenden zielführend umsetzbar ist, ist eine Falllast-Entlastung der erfahreneren Sozialarbeitenden notwendig, die neue Mitarbeitende betreuen. Entsprechend wurden mit dem Budgetantrag 2023 zusätzliche Stellen beantragt. Die vollständige Umsetzung des neuen Einführungsprogramms soll ab Januar 2023 erfolgen.
Suche via Social Media
Neben dem Onboarding wurden laut Martin Greter 2022 eine Reihe von weiteren Massnahmen umgesetzt. Seit Ende April 2022 wurde unabhängig davon, ob aktuell eine Stelle zu besetzen ist, laufend ein Inserat für Sozialarbeitende in der wirtschaftlichen Hilfe auf dem Jobportal ausgeschrieben. Es wird via eine externe Firma beworben, welche auf die Social-Media-Kanäle spezialisiert ist... «Daraus entstehen jetzt laufend Kontakte durch Nachfragen von Interessierten.» Seit Ende April 2022 bis Anfang August 2022 gingen bei der Sozialberatung Winterthur 40 Spontanbewerbungen ein.
Angesichts des Fachkräftemangels sollen zukünftig auch wieder mehr Ausbildungsplätze angeboten werden. Insbesondere sollen Praktikantinnen und Praktikanten im zweiten Teil des Studiums angestellt werden, mit dem Ziel der direkten oder baldigen Überführung in eine Anstellung als Sozialarbeitende. Um Praxisausbildnerinnen oder -bildner für Praktika zu gewinnen müssen diese entlastet werden. Denn die Begleitung von Studierenden stellt für die Praxisausbildenden einen erheblichen Mehraufwand dar, welcher mit der Arbeitsleistung der Praktikantinnen und Praktikanten nicht ausgeglichen werden kann.
Studienarbeit mit Befragung der Sozialarbeitenden
Um die Gründe der hohen Fluktuation zu erkennen und daraus weitere geeignete Massnahmen abzuleiten, wurde eine Studentin der Arbeitspsychologie beauftragt, im Rahmen ihrer Bachelorarbeit eine Befragung bei den Sozialarbeitenden der wirtschaftlichen Hilfe durchzuführen. Nach einer Präsentation im Führungsteam Ende September 2022 werden alle interessierten Sozialarbeitenden zur Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und zur Erörterung gezielter Massnahmen zu einem Workshop eingeladen. Es wird erwartet, dass sich daraus für die Organisation neue Lösungsansätze ergeben, die dann 2023 bearbeitet, umgesetzt und laufend evaluiert werden.