Alle Arbeitsschritte beim Projekt Restwert werden nach dem Vieraugenprinzip ausgeführt, um die Verantwortung zu teilen. 
Reportage

«Die Arbeit fühlt sich an wie im ersten Arbeitsmarkt, nur ohne Druck»

04.06.2023
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Suhr ist einer von 17 Standorten des Projekts Restwert, das mittels Social Franchising Integrationsplätze im kaufmännischen Bereich anbietet. In Kooperation mit einer sozialen Institution übernehmen Teilnehmende für Private den Verkauf von Produkten auf einer Onlinehandelsplattform und lernen so den Umgang mit PC, Kunden, Lieferanten und Administration kennen. 

Es ist acht Uhr in Suhr (AG). Im ersten Stock an der Gewerbestrasse 5 sind Achtsamtkeitsübungen angesagt. Die meist jungen Leute beugen und strecken sich, aber nicht etwa, um sich für den Sport aufzuwärmen, sondern um im Projekt Restwert gemeinsam in den Tag zu starten. Das Projekt Restwert übernimmt nämlich den kompletten Aufwand beim Verkauf eines Produktes auf der Onlinehandelsplattform Ricardo. Das Integrationsprojekt ist Kooperationspartner der Stiftung Töpferhaus gleich auf der anderen Strassenseite, die seit 1981 Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung mit Arbeits- und Wohnangeboten sowie Tagesstätten und im Job-Coaching unterstützt.

Abwechslungsreiche kaufmännische Tätigkeiten

Nach den Achtsamkeitsübungen und besprochener Tageseinteilung verteilen sich die heute anwesenden 14 Programmteilnehmenden auf die verschiedenen Büros. Einige gehen nach rechts in den Raum, in dem die Artikel entweder geputzt, getestet oder verpackt werden, andere nach links in eines der beiden Büros, in denen die Artikel fotografiert und in den Onlinekatalog aufgenommen werden. Sie beantworten Mails, führen die Buchhaltung, koordinieren Termine oder organisieren die Rückgabe nicht verkaufter Artikel. Andere recherchieren und vergleichen Artikel im Internet, erstellen die Produktebeschreibung und informieren Kunden über das Onlinestellen.

Heute steht neben dem Tagesgeschäft auch noch eine Putzaktion auf dem Plan. Zwei Frauen sind gerade dabei, die Fenster zu reinigen. Es herrscht emsiges Treiben, das Putzen der Scheiben verursacht ein Quietschen, «schlimmer als Nägel auf der Wandtafel», meint Praktikantin Silja schmunzelnd. Sie ist seit neun Monaten beim Projekt Restwert und kennt sich mittlerweile sehr gut aus. «Leute können bei uns ihre nicht mehr gebrauchten Sachen zum Verkauf vorbeibringen, und wir übernehmen den Rest», erklärt sie das Prinzip des Projekts Restwert.

Auch die 33-jährige Cloé arbeitet seit letztem Mai mit, sie hat ursprünglich Lebensmitteltechnologie studiert, bis sie 2021 gesundheitliche Probleme zu einer Pause zwangen. Zur Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt hatte sie die Möglichkeit, beim Projekt Restwert zu schnuppern, was ihr sehr zusagte. «Es ist zwar im geschützten Rahmen, fühlt sich aber an, wie auf dem ersten Arbeitsmarkt, nur ohne Druck», meint sie. Die Arbeiten am PC und der Kontakt zu Kunden und Lieferanten seien sehr abwechslungsreich. Da sie eine Teil-IV-Rente in Aussicht hat, sucht sie nun ein kleines Pensum im ersten Arbeitsmarkt. Dabei wird sie von Job-Coach Katja aktiv unterstützt. Dass es nicht so einfach sein wird, etwas in der Lebensmittelbranche zu finden, ist ihr bewusst. «Als Lebensmittelingenieurin im Bereich Qualitätsmanagement oder als Unterstützung in der Projektleitung», überlegt sie, «auf jeden Fall im Büro.» Die gemachten Erfahrungen geben ihr dennoch Zuversicht. «Die ersten Bewerbungen gehen diese Woche raus.»

Die Arbeitseinteilung erfolgt täglich und ist sehr individuell, «ausserdem ist es immer eine Überraschung, was so reinkommt». Heute ist Cloé zuständig für die Richtigkeit der erfassten Fotos und der Produktangaben. Derzeit befinden sich 380 Artikel auf der Handelsplattform. Es gibt Wochen, da kommen nur wenige Anlieferungen, dann aber wiederum melden sich Leute an und kommen mit einem Auto voller Waren. «Dann müssen wir schauen, wie wir das abarbeiten können», erklärt Stephanie Juan.

Idee des Projekts Restwert 

Nach einer Ausbildung im kaufmännischen Bereich hat Stephanie Juan nach der Berufsmatur angefangen, Soziale Arbeit zu studieren, aber nach einem Jahr abgebrochen: «Ich bin eine Macherin, das war mir zu theoretisch.» Heute leitet sie das Projekt Restwert Suhr mit Unterstützung von Lukas, kaufmännischer Fachmann, und Annette, angehende Arbeitsagogin. «So haben wir zusammen mit den Job-Coaches des Töpferhauses ideale Unterstützung für unsere Teilnehmenden.»

Die Idee zum Projekt Restwert stammt von Benni Brennwald vom Wangener Grundlagenwerk AG. Dieser hatte, in seiner Funktion als Leiter berufliche Integration einer Institution im Raum Olten, über mehrere Jahre eine erhöhte Nachfrage für realwirtschaftliche Trainingsplätze im KV Bereich festgestellt. Er sah darin eine Chance, diese Nachfrage mit seinem Wunsch nach vermehrter Zusammenarbeit unter den sozialen Institution zu kombinieren.

Das eigentliche Projekt Restwert wurde darauf als institutionsübergreifendes Konzept gemeinsam mit zuweisenden Stellen (Sozialhilfe, IV) entwickelt. Schliesslich wurde das Projekt Restwert ab 2017 als Pilotprojekt aufgebaut und getestet. Ab Oktober 2018 stand es als Social Franchising zur Verfügung (siehe ZESO 1/18, S. 30). Der erste Partnerbetrieb wurde 2019 in Pratteln eröffnet. Mittlerweile gibt es 17 Standorte in der Schweiz, vier bis fünf weitere sind bis Ende Jahr geplant. Mit dem «projet Plusvalue» in Lausanne expandierte das Projekt Restwert dieses Jahr in die Romandie.

Kooperation mit sozialer Institution

Die Projekte Restwert sind immer in eine soziale Institution eingebunden. «Als Privatperson könnte ich kein Projekt Restwert eröffnen», erklärt Stephanie. Es gehe ja darum, dass Betroffene Integrationsmassnahmen absolvieren können, um möglichst rasch im ersten Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Damit das möglich ist, müssen die Personen entsprechend begleitet werden. «Es ist eine Art Testumgebung für die Teilnehmenden», meint Stephanie.

Kein Druck bei der Arbeit

An den Wänden stehen volle Kisten mit blauen oder grünen Nummern. «Wir arbeiten nach dem Vieraugenprinzip, so hat niemand den Druck der vollen Verantwortung, da alles nochmals geprüft wird», erläutert Stephanie. Sobald die Artikel inseriert sind, werden sie in die grünen Kisten abgelegt und im Lager verstaut, bis sich ein Käufer findet. Das teuerste, was das Projekt Restwert Suhr je verkauft hat, war eine Posaune für 1900 Franken. «Das Witzigste war auf jeden Fall ein Telefon mit der Comic Figur Goofy. Sobald ein Anruf einging, öffnete die Figur die Augen und hob den Kopf», erinnert sich Silja. Raritäten sind natürlich auch gesucht, wie Kornschieber von alten Revolvern, die für vier bis 500 Franken das Stück verkauft wurden. Die Vielfalt an Artikeln sei bemerkenswert. Manchmal sind auch Artikel dabei, die aus Materialien bestehen, deren Herkunft vor dem Verkauf abgeklärt werden muss, wie bei Leder von seltenen Tieren. So kommen die Teilnehmenden in Berührung mit anderen Ämtern und Behörden und lernen dabei neue Zusammenhänge.

Das Projekt Restwert überlegt sich jeweils eine Preisstrategie, um die Artikel möglichst zu verkaufen. Einige Kunden legen den Mindestpreis selbst fest, andere überlassen dies dem Projekt Restwert. 70 Prozent des Verkaufspreises erhält der Kunde, 30 Prozent fliessen ins Projekt Restwert zurück. Sollte der Artikel nicht verkauft werden, kann er entweder gespendet oder abgeholt werden. Auch hier ist Nachhaltigkeit wichtig. Derzeit gehen die gespendeten Artikel an einen Pfarrer, der damit «z Märit» geht. Mit dem Erlös unterstützt er Kleinprojekte in Afrika.

Offene Feedbackkultur

Gemeinsam ist allen Standorten die eigens zu diesem Zweck entwickelte Applikation zur Artikelverwaltung. Nach jedem Arbeitsschritt gibt es eine Checkliste, die erklärt, was als Nächstes kommt. Im Journal ist ersichtlich, wer die vorherigen Schritte vollzogen hat und wer die Kontrolle erledigt hat. Damit wird eine offene Feedbackkultur gepflegt, was die Teilnehmenden ebenfalls weiterbringt. Katja, eine der Job-Coaches, schätzt den kaufmännischen Ansatz sehr. «Die praxisnahe Vielfalt der täglichen Aufgaben rüstet die Teilnehmenden für den ersten Arbeitsmarkt. Nach einem Einsatz beim Projekt Restwert ist schon einigen der Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt gelungen.»

Das Projekt Restwert eignet sich für soziale Institutionen, die nebst ihren bestehenden Angeboten zusätzlich den Bereich KV anbieten möchten. Weitere Informationen zum Betriebskonzept liefert das Grundlagenwerk AG auf seiner Website grundlagenwerk.ch.

Iris Meyer 
Redaktorin