Von den fast 200 000 Personen im Rentenalter, die im Jahr 2022 von Armut betroffen waren, hat etwa die Hälfte Sozialleistungen nicht beansprucht. 
Schwerpunkt

Der Nichtbezug von Sozialleistungen im Alter

02.12.2024
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In der Schweiz leben über 300 000 ältere Menschen an oder unter der Armutsgrenze. Besonders Frauen und Menschen mit niedrigem Bildungsniveau sind nach der Pensionierung von Armut bedroht. So die Ergebnisse des ersten Teilberichts des Nationalen Altersobservatoriums aus dem Jahr 2022. Die Organisation Avivo kämpft für einen besseren Zugang zu Ergänzungsleistungen.

Die repräsentative Umfrage zeigt, dass rund 200 000 Seniorinnen und Senioren mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze leben Das bedeutet, dass sie mit einem Einkommen von weniger als 2279 Franken pro Monat und Person auskommen müssen. Weitere 100 000 verfügen über ein monatliches Einkommen, das nur knapp über der Armutsgrenze liegt. Darüber hinaus befinden sich 46 000 Senioren in einer ausweglosen Armutssituation.

Die Ergänzungsleistungen (EL) werden gewährt, wenn Renten und andere Einkommen den Lebensbedarf nicht decken. Oft sind sie entscheidend, um die Kosten für den Aufenthalt in einem Alters- und Pflegeheim zu decken. Auch wenn es darum geht, die Krankenkassenprämien zu bezahlen, die Miete zu begleichen, zum Arzt zu gehen oder sich angemessen zu ernähren – die EL sichern das Existenzminimum.

Die Altersstudie

Doch die Realität sieht anders aus. Im Rahmen der Analysen der schweizerischen Altersbefragung hat die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) das Thema des Nichtbezugs von Ergänzungsleistungen zur AHV in der Schweiz untersucht. Auf der Grundlage einer repräsentativen Befragung von rund 3300 zuhause lebenden Personen im Alter 65 plus wurde das Ausmass der Nichtinanspruchnahme für das Jahr 2022 geschätzt. 15,7 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe verzichten auf EL, obwohl sie rechnerisch Anspruch darauf hätten. Von den fast 200 000 Personen im Rentenalter, die im Jahr 2022 von Armut betroffen waren, hat etwa die Hälfte Sozialleistungen nicht beansprucht. Das EL-System funktioniert also heute für die am wenigsten begünstigten Mitglieder unserer Gesellschaft schlecht.

Als älteste Vereinigung zur Verteidigung der Rentner in der Schweiz setzt sich die Avivo seit 1948 für ältere Menschen ein, um mehr Solidarität und soziale Gleichheit zu erreichen. Ihre Waadtländer Sektion kämpft heute dafür, dass prekarisierten Rentnern systematisch das Existenzminimum ausgezahlt wird – ein Grundrecht, das nicht automatisch gilt. Der Befund ist alarmierend: Zwischen moralischer Zurückhaltung und administrativer Entmutigung könnten es fast 230 000 prekäre Senioren in der Schweiz sein, die diese Unterstützung nicht erhalten, obwohl sie es sollten. Im Kanton Waadt wird die Nichtbezugsquote auf rund 20 Prozent geschätzt, was 5 Prozent über dem Schweizer Durchschnitt liegt.

Das Projekt Non-Recours Avivo

Die Aufdeckung von Nichtinanspruchnahme ist Gegenstand intensiver Forschung, da sie für die Gesellschaft von grosser Bedeutung ist: Menschen, die die ihnen zustehenden Leistungen nicht in Anspruch nehmen, gehen seltener zum Arzt oder zum Zahnarzt, und nach und nach wird ihre allgemeine soziale und gesundheitliche Situation beeinträchtigt. In Partnerschaft mit dem Gesundheits- und Sozialdepartement des Kantons Waadt (DSAS) hat die Avivo Waadt mit einem Projektleiter, Herrn Patrick Ernst, eine konkrete Anwendung dieser Beobachtungen dank der öffentlichen Politik «Altern 2030» des DSAS entwickelt, wobei eines der Projekte darauf abzielt, Situationen der Nichtinanspruchnahme zu erkennen.

Die Idee dieses Pilotprojekts ist es, sich mit den von der Avivo Waadt im ganzen Kanton eingerichteten Steuersprechstunden zu koordinieren. Seit vielen Jahren sind rund 150 Freiwillige (die «impôsteurs») im Kanton unterwegs, um Rentnerinnen und Rentnern bei der Erfüllung ihrer Steuerpflichten zu helfen. Zwischen Februar und Juni 2024 wurden so fast 7000 Steuererklärungen ausgefüllt und verschickt. Dabei handelt es sich um privilegierte Momente, um die Situationen zu erkennen, in denen eine Steuerpflicht besteht.

Die Steuerbeamten, die bereits seit Langem durch die Fachleute von Avivo für diese Fragen sensibilisiert sind, aber seit 2023 mit dem Pilotprojekt noch mehr, werden so beauftragt, besonders bedürftige Menschen zu identifizieren, die keine Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe oder Hilflosenentschädigungen erhalten, auf die sie Anspruch haben könnten.

Zu diesem Zweck verfügt jeder Steuerpflichtige, der zuvor entsprechend geschult wurde, über eine Tabelle mit den Einkommensgrenzen, die den Bezug von EL auslösen. Die Fälle sind von Person zu Person sehr unterschiedlich, aber wenn jemand nur eine AHV-Rente ohne BVG bezieht, prüft der Steuerpflichtige direkt, ob er EL-berechtigt ist. Wenn die erfassten Personen ihr Einverständnis geben, übernimmt ein Verantwortlicher der AVIVO dann den Fall.

Die notwendigen Schritte werden von den fest angestellten Mitarbeitern der Avivo Waadt und Lausanne (sechs Vollzeitäquivalente) in Begleitung des Projektleiters durchgeführt. Die Stärke dieses Systems ist die Basis, dank der mobilen Sprechstunden, der ehrenamtlichen Steuerberater und der sieben Angestellten der Avivo Waadt und Lausanne.

Die ersten Ergebnisse

In den Jahren 2023 und 2024 wurden im Rahmen aller Steuerberatungen von Februar bis Juni rund 200 Begegnungen mit Personen gezählt, die Schwierigkeiten hatten, das Monatsende zu überbrücken, wobei die meisten Begegnungen in Lausanne und Lausanne-West sowie im Chablais stattfanden. Während zwei Drittel der Personen an eine geeignete Stelle verwiesen wurden oder einfach nur relevante Informationen erhielten, erhielt ein Drittel schliesslich eine Zusatzleistung, die durch persönliche Betreuung und praktische Hilfe bei der Antragstellung ermöglicht wurde.

Es stellt sich die Frage nach den Gründen für die Nichtinanspruchnahme. Die Avivo Waadt dokumentiert mithilfe des Projektleiters die ermittelten Fälle und hat bei den ermittelten anspruchsberechtigten Personen eine psychologische Blockade hervorgehoben. Die Erfahrung zeigt, dass die betroffenen Personen in der Regel ein schwieriges Leben hatten. Wir sprechen hier von niedrigen Löhnen mit oftmals keiner vollen AHV-Rente, obwohl die Personen ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. Diese Menschen schämen sich, oft aus Stolz, um Hilfe zu bitten.

Doch wie die Avivo immer wieder betont, ist die Gewährung von Ergänzungsleistungen keine Wohltätigkeit, sondern ein im Gesetz und in der Schweizer Verfassung verankertes Recht, das durch kantonale und eidgenössische Steuern finanziert wird. Eine weitere Blockade ist administrativer Art. Die Unterlagen, die zur Untermauerung des Antrags vorgelegt werden müssen, wecken manchmal schmerzhafte Erinnerungen, zum Beispiel Scheidungsurteile oder Sterbeurkunden, oder werden von den Antragstellern als aufdringlich empfunden, insbesondere wenn es um Rechnungen für Pflegeleistungen geht, die schwer zusammenzustellen sind. Der Anspruchsberechtigte zieht es daher vor, nichts zu unternehmen.

Mögliche Massnahmen 

Neben einer politischen Aktion im Waadtländer Grossen Rat mit dem Ziel, den Zugang zu den EL zu automatisieren, versucht die Avivo Waadt, mit ihrem Projekt Non-Recours die Verwaltungsprozesse zu vereinfachen und die Informationskanäle auszubauen und humaner zu gestalten. In der Zeitung «Le Courrier» oder durch anderweitige Mitteilungen in der Presse, durch Anzeigen in den Sozialversicherungsagenturen oder beim Ausfüllen der Steuererklärungen sensibilisiert Avivo die Anspruchsberechtigten. Sie trifft sich mit ihnen, führt Telefongespräche und unterstützt nach Bedarf. 

Avivo

Avivo unterscheidet sich von anderen Seniorenorganisationen durch ihre Geschichte, ihre Berufung und ihr Vereinsleben. Seit Einführung der AHV im Jahr 1948 setzt sich die Avivo für die Ziele dieser Versicherung ein und kämpft für deren Verbesserung, damit alle Rentnerinnen und Rentner ein würdiges Leben führen können. Ihre Tätigkeitsfelder sind die Altersvorsorge, die Sozialversicherungen, das Wohnungswesen, die Rechte der älteren Menschen, die Mobilität, die Beziehungen zwischen den Generationen, die administrativen Hürden, die Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen und die Erhaltung der Autonomie.

Béatrice Métraux
Avivo Schweiz