Bedarfsorientierte Fallführung erfordert geregelte Kooperationen
Junge Menschen, denen «Mehrfachproblematiken» attestiert werden, sind oft auf vielfältige Unterstützung angewiesen. Gleichwohl stossen sie und Fachpersonen beim Hilfezugang an Systemgrenzen. Diese Grenzen gilt es aufzuweichen, um bedarfsorientierte Unterstützung und koordinierte Hilfe zu ermöglichen, wie eine aktuelle Studie zeigt.
Wenn es darum geht, (junge) Menschen vor Armut zu schützen und soziale Teilhabe zu ermöglichen, wird der nachobligatorischen Ausbildung eine bedeutsame Rolle zugeschrieben. Dies spiegelt sich auch im bildungspolitischen Ziel von Bund und Kantonen, das anstrebt, dass 95 Prozent der Jugendlichen bis zum Alter von 25 Jahren über eine nachobligatorische Ausbildung verfügen. Auch wenn gemäss dem Bundesamt für Statistik ca. 90,9 Prozent aller Jugendlichen dieses Ziel erreichen, so bleiben doch knapp 10 Prozent junger Menschen ohne Abschluss.
Zudem zeigen die Daten, wenn Geschlechterkategorien, Nationalität und Landesregion einbezogen werden, dass spezifische Gruppen junger Menschen deutlich öfter dem Risiko von Ausbildungslosigkeit und Armut ausgesetzt sind. Um diesen Mechanismen entgegenzuwirken und um die berufliche und soziale Integration junger Menschen zu unterstützen, hat sich parallel zum Berufsbildungssystem ein System vielfältiger Unterstützungsangebote etabliert. Bereitgestellt wird es von Akteuren aus den Bereichen Bildung, Sozialversicherungen, Gesundheit und Migration. Die vielfältigen Angebote, die sich unter dem Begriff Übergangssystem subsumieren lassen, zielen darauf, die berufliche und soziale Integration zu fördern, Chancengleichheit herzustellen und so einen Beitrag zur Armutsprävention zu leisten.
Eine aktuelle Studie im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut zeigt allerdings, dass sowohl das Berufsbildungs- als auch das Übergangssystem bei jungen Menschen mit sogenannten Mehrfachproblematiken an Grenzen stösst. Untersucht wurde die Frage, wie junge Menschen mit komplexen Problemlagen auf dem Weg in Ausbildung und Erwerbsarbeit besser begleitet werden können. Die Ergebnisse zeigen, dass die involvierten Akteure aus unterschiedlichen Systemen aufgrund ihrer Struktur und Ausrichtung nicht ausreichend in der Lage sind, bedarfsorientiert auf die spezifischen Herausforderungen der jungen Menschen zu reagieren. Hier gilt es auch zu prüfen, welche Rolle der Sozialhilfe bei der Unterstützung und Begleitung junger Menschen mit vielfältigen Problemen zukommt. Neben der Frage, was bedarfsorientierte Unterstützung ausmacht, gilt es zu eruieren, wie die Sozialhilfe ihre Leistungen mit an deren Fachdiensten bedarfsorientiert verknüpfen kann. Hierzu bietet der Beitrag Anregungen für die Weiterentwicklung.
«Wenn Probleme erst einmal da sind, kommen schnell neue Probleme dazu.» «Ich habe einfach kein Fundament gehabt, und dann häufen sich die Probleme.»
Junge Menschen mit bedarfsorientierter Hilfe unterstützen
Mit dem Begriff Mehrfachproblematiken wird umschrieben, dass junge Menschen mit Herausforderungen in verschiedenen Lebensbereichen konfrontiert werden, die sich meist dynamisch und wechselwirkend entwickeln. Sie können ihren Ursprung bei den jungen Menschen selbst, ihren Familien, in schulischen oder privaten Netzwerken oder auch in fehlenden Ressourcen zur Problembewältigung haben und sich von dort aus vervielfachen. Auch regionale Arbeitsmarktbedingungen oder Labeling-Prozesse beeinflussen Problemlagen. Dies zeigen die Ergebnisse der Studie sehr deutlich. Fehlen eigene Ressourcen oder informelle Hilfen aus dem sozialen Umfeld, die zur Bewältigung der Problemlagen beitragen könnten, oder werden sie nicht als solche anerkannt, benötigen Betroffene in der Regel Unterstützung in verschiedenen Bereichen – und entsprechend von verschiedenen Institutionen. Doch obwohl vielfältige Hilfen bestehen, erschwert der Angebotsdschungel den Zugang zu Unterstützungsleistungen – nicht zuletzt auch aufgrund für junge Menschen unüberwindbar erscheinender administrativer Vorgaben oder einer mangelnden Koordination von Hilfen. Sind diese Hürden genommen, wird die Hilfe oft als zu einseitig auf ein Problem fokussiert erlebt, während sie für andere Probleme an andere Stellen verwiesen werden. Dies geht für junge Menschen mit erneuten Herausforderungen und Anforderungen einher, ohne Gewissheit, ob sie schliesslich die nötige niederschwellige, bedarfsorientierte Begleitung erhalten. Dabei meint eine bedarfsorientierte Unterstützung auch die Unterstützung durch Fachpersonen bei der Koordination von Hilfen und der Bewältigung administrativer Anforderungen. Das heisst, sie wünschen sich einen Schalter nur für sich oder «einen Coach, der einen zur Seite nimmt und sagt, jetzt machen wir dies und das».
«Die Rahmenbedingungen und der Fokus auf die Berufsbildung sind bei komplexen Fällen zu eng, was nicht zulässt, was nötig wäre.» ... «Ein strenges beratungstechnisches Vorgehen im Case Management ist oftmals nicht angebracht.»
Koordinierte Hilfe im Berufsbildungs- und Übergangssystem
Ähnlich wie die jungen Menschen problematisieren die befragten Fachpersonen, dass die Hilfen der Bereiche Berufsbildung, Sozialversicherungen, Gesundheit oder Migration auf einen bestimmten Leistungsanspruch ausgerichtet sind, z. B. Hilfen bei Ausbildungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, gesundheitlichen oder finanziellen Schwierigkeiten. Sind verschiedene Hilfen nötig, kommen die zuständigen fallführenden Stellen an Grenzen.
Dies gilt auch für die spezialisierten Angebote der Fallbegleitung – wie Berufsintegrationsangebote – mit denen diese Stellen zusammenarbeiten. So führen institutionelle Rahmenbedingungen in Brückenangeboten, Motivationssemestern, Berufsintegrationsangeboten der IV oder der Sozialhilfe zu Begrenzungen bei der Abklärung, den Zielsetzungen und der zeitlichen und inhaltlichen Ausgestaltung. Meist richtet sich der Fokus (zu) eng auf die Berufsintegration. Zugespitzt formuliert: Was nützt das Trainieren von Bewerbungsgesprächen, wenn junge Menschen anderen Sorgen ausgesetzt sind, für die sie keine Hilfe erhalten? Unterstützung – bei Schulden, bei familiären Problemen oder beim Ausfüllen der Steuererklärung – kommt oft zu kurz – obwohl eine lebensweltbezogene Begleitung unabhängig von formalen Bildungsabschlüssen eine zentrale Voraussetzung für die soziale und berufliche Integration darstellen kann.
Zudem beurteilen die Fachpersonen den Zugang zu Hilfen ähnlich wie die befragten Jugendlichen als unübersichtlich und unflexibel. Aus ihrer Sicht ist ferner die interinstitutionelle Zusammenarbeit vielerorts noch wenig systematisch geregelt und daher von einzelnen Personen abhängig. Dies trägt in der Summe dazu bei, dass trotz vielfältigen Hilfen die Unterstützung für junge Menschen zu selten bedarfsorientiert ist, was eine «Risikoselektion» fördert, Hilfen zu «Verschiebebahnhöfen» mutieren lässt und letztlich zu weiterem Ausschluss statt zu Integration führt – wie Fachpersonen berichten.
Erfolgsfaktoren kantonaler Übergangssysteme
Basierend auf den Ergebnissen der Studie bedarf es für die Unterstützung junger Menschen mit vielfältigen Problemlagen einer Weiterentwicklung der kantonalen Übergangssysteme. Dabei sind zwei übergreifende Grundsätze zentral: (1) die bedarfsorientierte Unterstützung (Fallarbeit) und (2) die Koordination von Hilfen (Fallkoordination und interinstitutionelle Zusammenarbeit).
- Die «bedarfsorientierte Unterstützung» und Fallarbeit erfordert eine bedarfs- und jugendgerechte Beratung/Begleitung. Hierfür ist eine fundierte Abklärung und Hilfeplanung nötig, die alle für die jungen Menschen relevanten Probleme in den unterschiedlichen Lebensbereichen berücksichtigt. Dabei gilt es, Fachpersonen zu befähigen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Arbeit ermöglichen.
- Die «Koordination von Hilfen» meint die fallspezifische Koordination von Hilfen über institutionelle Zuständigkeiten hinweg. Hierfür muss die interinstitutionelle Zusammenarbeit im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten geregelt sein.
Die Implementierung einer bedarfsorientierten Unterstützung erfordert Entwicklungen auf mindestens drei Systemebenen: der strategischen Ebene, der Ebene der Fallführung und die der Fallbegleitung. Für jede dieser Ebenen wurden auf der Basis der Ergebnisse Erfolgsfaktoren herausgearbeitet (vgl. Tabelle 1).
Anregungen zur Weiterentwicklung auf unterschiedlichen Ebenen
Der auf der Studie basierende Leitfaden bietet Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung des Übergangssystems in den Kantonen, Städten und Gemeinden. Dazu wurden Analysefragen für jede Ebene formuliert. Für die Sozialdienste – die auf der Ebene Fallführung angesiedelt sind – können folgende exemplarisch ausgewählten Reflexionsfragen weiterführend sein (mehr dazu im Leitfaden):
Die Ergebnisse der Studie zeigen ferner, wie wichtig der Einbezug der fallbegleitenden Angebote (E2) ist. Auch für diese Ebene bietet der Leitfaden Analysedimensionen und Fragen (vgl. Tab. 3). Für junge Menschen mit bedarfsorientiertem Unterstützungsbedarf ist es entscheidend, dass die fallbegleitenden Angebote flexible Spielräume für die Begleitung haben – denn es reicht oft nicht, nur auf die Berufsfindung zu fokussieren.
Beispiele für interinstitutionelle Zusammenarbeit im Übergangssystem
Im Rahmen der Studie wurde die «Strategiegruppe Jugendarbeitslosigkeit» im Kanton Basel-Stadt als Beispiel für eine departementsübergreifende Strategie auf Ebene 0 vorgestellt, welche die Zusammenarbeit bei der Systementwicklung erleichtert. Am Beispiel des Modellprojekts der «Cité des Métiers» im Kanton Genf wurde gezeigt, wie die interinstitutionelle Zusammenarbeit zwischen dem Berufsbildungs- und Arbeitsamt sowie der Sozialhilfe geregelt und ausgestaltet werden kann (Ebene 1, 2) (vgl. Leitfaden).
Der Blick ins Feld zeigt unabhängig von den Ergebnissen der Studie, dass sich auch andere Beispiele für Entwicklungen in Bezug auf eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Bereichen Bildung, Arbeit und Sozialversicherungen finden lassen. Hierbei ist beispielsweise auf das Entwicklungsprojekt in der Stadt Zürich verwiesen: Im Rahmen des Programms «Arbeitsmarkt 2025» lancierte das Sozialdepartement der Stadt Zürich unter anderem das Projekt «B25 – Berufseinstieg bis 25 Jahre» (vgl. Seite 21). Es zielt ebenfalls darauf ab, die Unterstützung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit «Mehrfachproblematiken» im Übergang in Ausbildung und Erwerbsarbeit weiterzuentwickeln. B25 ist dem Laufbahnzentrum Zürich angesiedelt und setzt sich aus den Teams «Lehrstellencoaching» sowie «Coaching und Case Management Berufsbildung» (CCMBB) zusammen. Bei erhöhtem Bedarf bietet B25 in enger Zusammenarbeit mit weiteren involvierten Stellen eine bedarfsgerechte, langfristige und koordinierte Begleitung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Werden die Kriterien für die Aufnahme erfüllt, können Fachpersonen wie Berufsberatende, Fallführende der Sozialen Dienste oder der Jugendanwaltschaft, Coaches aus Motivationssemestern und andere gemeinsam mit den jungen Menschen eine Anmeldung einreichen. Wenn sie von keiner Fachperson begleitet werden, können sich die jungen Menschen auch selbst anmelden.
Im Rahmen des Intake B25 wird der Begleitbedarf eingeschätzt und die interne Zuweisung organisiert. Nach Fallaufnahme im B25 wird gemeinsam mit den jungen Menschen deren Situation betrachtet, und partizipativ werden erste Handlungsschritte festgelegt. Um die Koordination zwischen den involvierten Stellen zu erleichtern, wird im Rahmen des Teilprojektes I auch die interinstitutionelle Zusammenarbeit geregelt. Dazu wurde in der Phase I (2020–2022) mit relevanten Anbietern (Fallbegleitung E2) die Zusammenarbeit geklärt und im Handbuch B25 festgehalten (vgl. Seite 21). Mit den fallführenden Stellen (E1) und weiteren Anbietern (E2) sollen bis 2024 Vereinbarungen abgeschlossen werden. Dies sind RAV/ALV/SEMO, SVA/IV, Jugendanwaltschaft, Gesundheitsorganisationen, Berufsbildungsamt, private Anbieter und allfällige weitere Stellen. Bei Entwicklungen auf diesen Ebenen bietet der Leitfaden hilfreiche Ansätze für die Weiterentwicklung.
Fazit
Deutlich wurde: Um eine bedarfsorientierte Unterstützung gewährleisten zu können, ist nicht allein die Qualität einer einzelnen Hilfe entscheidend, sondern auch die sinnvolle Verknüpfung verschiedener Unterstützungsangebote auf der Ebene der Fallführung und der Fallbegleitung. Dazu ist die interinstitutionelle Zusammenarbeit zu regeln und deren Qualität zu pflegen. Diesen Anspruch verfolgen gegenwärtig unterschiedliche kantonale und kommunale Initiativen. Der Leitfaden zur Studie führt die obigen Empfehlungen für die drei relevanten Ebenen aus. Ansatzpunkte, um die kantonalen Übergangssysteme weiterzuentwickeln, bieten vielfältige Fragen, wie sie exemplarisch dargestellt wurden.
Quellen:
BFS (2019). Sekundarstufe II: Abschlussquote. Verfügbar unter: www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/themen/bildungserfolg/abschlussquote-sekii.html [02.11.2022]
Schaffner, Dorothee; Heeg, Rahel; Chamakalayil, Lalitha; Schmid, Magdalene (2022a). Unterstützung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Mehrfachproblematiken an den Nahtstellen I und II. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 2/22. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen. Studie (https://www.gegenarmut.ch/home)
Schaffner, Dorothee; Heeg, Rahel; Chamakalayil, Lalitha; Schmid, Magdalene (2022b). Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt. Mit Fokus auf die Unterstützungsbedarfe von jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken. Bern: Bundesamt für Sozialversicherung (BSV). Leitfaden (https://www.gegenarmut.ch/studien/studien-nationales-programm/detail/leitfaden-zur-weiterentwicklung-kantonaler-systeme-im-uebergang-schule-ausbildung-arbeitsmarkt)
Informationen zur methodischen Umsetzung der Studie
Im Zentrum der Studie stand die Frage, wie junge Menschen mit komplexen Problemlagen auf dem Weg in Ausbildung und Erwerbsarbeit bedarfsgerecht begleitet werden können. Dieser Frage wurde mittels Sichtung und Analyse des Fachdiskurses, Gruppendiskussionen mit jungen Erwachsenen und sprachregionalen Workshops mit relevanten Akteuren aus dem Feld sowie einer Good-Practice-Recherche nachgegangen.