«Am liebsten würde ich für immer hierbleiben!»
Die Stiftung Lebensart im emmentalischen Bärau bietet Lebensraum und Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen und für Menschen im Alter mit unterschiedlichem Pflegebedarf. Seit 2016 bietet sie zudem Eingliederungsmassnahmen an und begleitet Jugendliche und Erwachsene mit erschwertem Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt in ein möglichst selbständiges Leben.
Es ist kühl, die Sonnenstrahlen verstecken sich noch hinter dem Waldrand, im neu gebauten Stall der Stiftung Lebensart werden gerade die Kälber gefüttert. Auf dem rund 46 Hektaren grossen landwirtschaftlichen Betrieb wartet Antonia zusammen mit Sven, der während der Woche in der Stiftung lebt und auf dem Hof mitarbeitet. Antonia freut sich, ihren Alltag in der Stiftung zeigen zu können. Etwas nervös sei sie schon, das merkt man der zierlichen Frau mit den wachen graublauen Augen aber nicht an. Antonia bearbeitet heute eine Gemüsebestellung, Sven und Rolf werden ihr dabei helfen. Rolf ist ein weiterer Bewohner, der Birchermüesli liebt und das Schnurren einer Katze täuschend echt zum Besten geben kann. Während wir zum Kühlraum gehen, wo das Gemüse gelagert wird, erzählt die 41-jährige Hörgeräteakustikerin, warum sie in der Stiftung Lebensart arbeitet.
Vielfältiges Angebot der Stiftung Lebensart
Lebensart ist eine unabhängige Stiftung, die Menschen mit Beeinträchtigungen und Menschen im Alter mit unterschiedlichem Pflegebedarf ein Zuhause gibt. Seit 2016 bietet die Stiftung auch Eingliederungsmassnahmen an. Cornelia Ackermann, Leiterin der Abteilung Integration, präzisiert, dass an den sechs Standorten der Stiftung derzeit zwölf Personen eine praktische Ausbildung (PrA nach INSOS), 4 Lernende ein eidgenössisches Berufsattest und 74 Lernende ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis in einem der 19 Berufsfelder anstreben. Cornelia Ackermann war am Aufbau der beruflichen Integration beteiligt. «Sie wird laufend weiterentwickelt», erzählt sie mit Stolz.
Mit Integrationsmassnahmen zum Erfolg
Nebst dem Belastbarkeits- und Aufbautraining bietet die Stiftung auch Coaching am Arbeitsplatz und Arbeit zur Zeitüberbrückung an. Viele Integrationsmassnahmen gelingen, aber es gibt auch schwierige Situationen. Dann gilt es, zu schauen, welche Parameter geändert werden können, damit das Ziel – die Integration – doch noch erreicht werden kann. «Manchmal muss man aber auch einsehen, dass jemand entweder nicht ausbildungsfähig ist oder es noch zu früh dafür ist», gibt Cornelia Ackermann zu bedenken. Da die IV eine Erstausbildung bezahlen, bekommen junge Menschen oftmals noch eine Chance. Auch Birka Junker, ebenfalls Teil des dreiköpfigen Integrationsteams der Stiftung, bestätigt: «Manchmal ist es einfach nicht der richtige Zeitpunkt, nicht der richtige Ort oder nicht die richtige Betreuungsperson für den betroffenen Menschen.» Bei der Stiftung haben die Fachpersonen sehr viele Möglichkeiten, Integrationsmassnahmen zum Erfolg zu bringen. Erfolg ist aber auch relativ, manchmal besteht er auch darin, dass jemand die Lehre zwar nach zwei Jahren abbricht, aber doch immerhin zwei Jahre durchgehalten hat.
Die Stiftung führt etliche eigene Betriebe, in denen Bewohner und Teilnehmende an den Eingliederungsmassnahmen ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt und gefördert werden können. Somit kann Antonia seit Neuestem im Atelier der Stiftung ein Praktikum Richtung Agogik absolvieren und dort einen Bewohner in der Näherei anleiten. «Das klappte beim ersten Mal zwar noch überhaupt nicht, aber wir versuchen es nächste Woche gleich nochmal», meint sie schmunzelnd.
Neue Stiftungsstrategie für 2022
Durch die Entwicklung weg von stationären hin zu dezentralen und ambulanten Angeboten in der Pflege und Betreuung stellt sich die Stiftung derzeit neu auf. Ziel ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen eine Ausbildung zu ermöglichen und sie danach als Arbeitskräfte an allen Standorten und in allen Tätigkeitsbereichen bis hin zu Betreuungs- und Pflegeaufgaben innerhalb der Stiftung einzusetzen. Geschäftsführer Lukas Bär ist überzeugt, dass auch Menschen mit einer Beeinträchtigung diese Aufgaben wahrnehmen können, wenn Lebensart dazu die richtigen Rahmenbedingungen schafft.
Inspirierende Arbeit, mal etwas ganz anderes
Die völlig andere Arbeit mit Menschen und Tieren in der Natur tut auch Antonia sehr gut. Heute kann sie wieder unter Menschen gehen, obwohl die Angst ein ständiger Begleiter bleibt. Die Erkrankung und die damit verbundenen Einschränkungen zu akzeptieren, fällt ihr nach wie vor schwer. Heute arbeitet sie bereits wieder fast 65 Prozent. «Ich muss sehr aufpassen, dass ich mich selbst nicht überfordere. Ich denke immer, die paar Stunden arbeiten …, wenn ich aber abends wieder Schmerzen habe, weiss ich, dass ich noch immer lernen muss, auf meinen Körper zu hören.» Am liebsten würde sie eine Umschulung zur Agogin absolvieren und für immer hierbleiben, schwärmt sie. Die Arbeit mit den Bewohnern habe sie sehr inspiriert, was sie vorher nie für möglich gehalten hätte.
Auf die Eingliederungsmassnahmen angesprochen, erklärt Cornelia Ackermann, dass die IV während der Massnahmen ein dreiwöchiges Praktikum im ersten Arbeitsmarkt vorschreibt. Die Stiftung ist somit auf das Mitwirken des lokalen Gewerbes angewiesen. Das funktioniert gut, da sie sich ins örtliche soziale Netzwerk integriert hat und offen über das Leben und Arbeiten in der Stiftung kommuniziert. Bei der Suche nach Anschlusslösungen, wo marktübliche Löhne bezahlt werden sollen, versucht die Stiftung, mit Leistungslohn und Teilrenten verträgliche Lösungen zu schaffen. Für künftige Arbeitgeber bietet sie den Vorteil eines Übergangscoachings, damit sich Mitarbeitende und Arbeitgeber besser kennenlernen können. Es besteht auch die Möglichkeit von Arbeitsversuchen, da bezahlt die IV den zeitlich definierten Arbeitseinsatz beim potenziellen Arbeitgeber, damit dieser sich so mit der Verpflichtung noch etwas Zeit lassen kann.
Wiedereinstieg oder Umschulung?
Mit Antonia diskutiert Birka Junker als deren persönliche Bezugsperson derzeit die Rückkehr in den Arbeitsmarkt als Hörakustikerin oder die Möglichkeit einer Umschulung. Antonia möchte gerne künftig agogisch im sozialen Bereich arbeiten. Ob die IV dies finanziert, ist jedoch noch unklar. Diese Unsicherheit ist belastend, und Birka Junker hilft Antonia, damit umzugehen. Antonia muss erst wieder zu mindestens 80 Prozent einsatzfähig sein, damit sie den Wiedereinstieg oder ein Praktikum und die Umschulung nachhaltig meistern kann.
Mittlerweile scheint die Sonne im Emmental. Es ist fast Mittag. Antonia erklärt ihren beiden Helfern die nächsten Arbeitsschritte: Eier putzen, auf regelmässige Schalendichte durchleuchten, abstempeln und in Schachteln packen. Rolf macht sich sogleich an die Arbeit, während Sven sich auf den Weg zum Mittagessen macht. Antonia hat ihr Arbeitssoll für heute auch erreicht, auch wenn sie nur noch wenige Handgriffe von der Beendigung der Bestellung entfernt ist. Jetzt trotzdem aufzuhören und erst morgen weiterzumachen, gehört auch zum Lernprozess und unterstützt den nachhaltigen Wiedereinstieg.
Stiftung Lebensart
Die Stiftung Lebensart ist eine der ältesten Organisationen ihrer Art im Kanton Bern. 1784 als Armen-, Arbeits- und Erziehungsanstalt für das obere Emmental gegründet, bietet sie heute Hand, Herz und Lebensraum für psychisch, geistig oder sozial beeinträchtigte Menschen und für Menschen im Alter mit unterschiedlichem Pflegebedarf. In ihren Institutionen in Aarwangen, Bärau, Konolfingen, Oberburg und Trubschachen sowie im Hotel & Restaurant Orchidee in Burgdorf finden die Menschen erfüllende Arbeit oder Beschäftigung. Sie werden individuell gefördert und können ihre Fähigkeiten entfalten, stärken und weiterentwickeln. Die vielseitigen Freizeitangebote, belebenden Wohnumgebungen und das kompetente Pflege- und Betreuungspersonal sorgen für Lebensqualität und ein schönes Zuhause. Mit mehr als 700 engagierten Mitarbeitenden inklusive über 100 Lernenden, Studierenden und Praktikantinnen und Praktikanten ist Lebensart eine der grössten Institutionen dieser Art im Kanton Bern und eine wichtige Arbeitgeberin, die ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt.